Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Ihre nackten Füße streifen über den Teppich, das weiche Gewebe ist angenehm, wie eine Massage für ihre Zehen, die seit sechs Uhr in der Früh in High Heels steckten. Dimmes Licht scheint aus dem Badezimmer und sie lauscht dem Summen des Lüfters. Von einem Gähnen übermannt, bleibt sie auf der Schwelle zum Schlafzimmer stehen und lässt ihren Kopf kreisen, bis sie ein wohliges Knacken vernimmt.
„Du bist schon im Bett?“ Sie lächelt den auf dem Kissen zusammengerollten Kater an, der sie wie üblich ignoriert. „Katze müsste man sein“, sinniert sie laut und knöpft die Jeans auf. „Den ganzen Tag pennen, dann das Bett beschlagnahmen.“
Ihre Pobacken an der Kommode, ein Erbstück ihrer Uroma, abstützend, hebt sie ein Bein, packt den Saum und zieht den engen Stoffs über die Knöchel. Dem zweiten Hosenbein folgt die Unterwäsche, anschließend Bluse sowie BH. Anspannung überfällt sie, springt sie regelrecht an und ein ominöses Gefühl macht sich breit. Erneut lockert sie ihr Genick mit einigen Streckbewegungen, schlüpft hurtig ins Nachthemd und geht ins Bad. Gähnend greift sich die Zahnbürste, drückt sorgfältig eine gestreifte Zahnpastawurst darauf und überlegt sich, ob für den Frühstückskaffee noch genug Milch übrig ist.
Das sanfte Vibrieren im Mund beruhigt die Nerven. Vorerst. Einer ihrer rechten Backenzähne schmerzt, die Berührungen der Borsten schlagen wie winzige Blitze in den Kiefer ein. Bei jedem ihrer Flüche wird Zahnpasta an den Spiegel geschleudert, Doktor Häberli wird sie trotzdem solange meiden, bis sie der Schmerz außerhalb des Bads heimsucht. Die Uhr zeigt viertel nach elf, der Wecker ist bereits gestellt, die Bettdecke zurechtgemacht.
Wenn sie Glück hat, ist heute einer dieser seltenen Tage, an denen sie rasch in den Schlaf findet, statt wie meist in ihren Gedanken gefangen in den Laken herumzurollen und an die Tapete zu stieren. Sie spuckt aus, trinkt einen großen Schluck vom Wasserhahn und spült die Zahnbürste ordentlich sauber, ehe sie sie in der Ladestation platziert. Sich die Zunge rausstreckend hält sie das Handgelenk hoch und schielt auf den Fitnesstracker. Nach einem so langen Tag hatte sie eigentlich mehr Lob vom digitalen Überwacher erwartet, aber anscheinend stimmte ihr Empfinden nicht mit der Realität überein. Enttäuscht legt sie den Tracker auf dem Notizblock ab, welchen sie auf dem Spülkasten deponiert hat und dreht den Hahn auf lauwarm.
Sie besitzt hunderte dieser Blöcke, überall verteilt in der Wohnung, im Auto, Büro und in jeder Tasche. Es war ihre Mutter gewesen, die sie darauf gebracht hatte, die Dämonen auf Papier zu verbannen. Seither sind die linierten Seiten zum Schutzschild geworden, begleiten sie überall hin, wie Linus‘ Schmusedecke. Meist beginnt es in den späten Abendstunden, tagsüber bleibt sie verschont.
Müde betrachtet sie die die feine Spirale, die ihre Seife im Waschbecken auf dem Weg ins Rohrsystem hinterlässt. Die Ruhe ist trügerisch, dennoch liebt sie den Moment, bevor es losgeht, hofft, heute warte eine dieser Nächte auf sie, in denen sie Frieden findet. Sie zwingt sich dazu, das fließende Wasser zwischen den Fingern zu genießen, drängt die Angst zurück.
„Es ist okay“, versichert sie ihrem Spiegelbild, ehe sie die Augen schließt und sich über das Becken beugt. „Es ist okay“, wiederholt sie, sich das Gesicht waschend. Ohne aufzusehen nimmt sie das Waschgel und schäumt es auf. Der Duft von Alpenkräutern steigt ihr in die Nase, ihre Hände gleiten seidig über die Wangen. Zunehmend fällt es ihr schwer, die Hektik im Zaum zu halten, blind, gebückt und mit dem Rücken zur Tür. Ihr Körper versteift, der Kiefer verkrampft sich zu einem bizarren Ausdruck. Doch sie macht weiter, reibt vorsichtig über den Wimpernkranz, bis sich die Mascara komplett aufgelöst hat. Nach und nach nähert sich die erdrückende Präsenz, droht, sie an der Keramik zu zerquetschen, Organe in Flüssigkeit zu verwandeln. Er wird ihr nichts tun, sie tun ihr nie etwas, trotzdem beschleunigt ihre Atmung, der Puls pocht von der Sohle bis zur Kopfhaut. Das Unvermeidliche hinauszögernd, tastet sie nach dem Temperaturregler und benetzt ihren Nacken. „Es ist okay.“
Sie richtet sich auf, schnauft gegen die erschöpfte Panik kämpfend, schließlich öffnet sie die Lider.
Da ist er, spiegelt sich hinter ihr im Schein der dürftigen Badezimmerbeleuchtung. Ein dünnes Lächeln, ein Gebiss aus spitzen Nadeln, gekrönt von zwei Fängen, bereit zuzuschlagen und sie in Stücke zu reißen. In seiner hageren Gestalt haust immense Kraft, seine Präsenz könnte Schlösser füllen.
„Es ist okay“, sagt sie, direkt in die teerschwarzen Löcher oberhalb seiner Nase starrend. „Es ist okay.“ Seine Nüstern blähen sich auf, in einem Zug saugt er alle Luft aus ihren Lungen. „Es ist …“ Ohne ihren Blick abzuwenden, dreht sie sich ächzend zur Seite. „Okay.“ Speichel tropft von seinem Kinn auf ihre Füße, der zähflüssige, eiskalte Geifer spritzt bei jedem ihrer winzigen Schritte zwischen den Zehen hoch. Sie würgt, ein eitriger Geschmack schwappt hoch.
Ihre Beine wollen nachgeben, unter der Last des schwarzen Mannes brechen und ihr Kampfesgeist weicht einem klebrig süßen Delir. Sie will in sich zusammenfallen, er soll sie verschlingen, sie der Erde entreißen, sie auslöschen, in seinem Reich aus Pech und Verderben zur Prinzessin krönen. Ihre Muskulatur wird schlaff, gibt nach – er wird sie sich nehmen. Halb bewusstlos sackt sie ein, stößt gegen die Toilette und … Der Notizblock trifft mit einem satten Geräusch auf die Fliesen.
„Nein!“ Sie hat nicht vor, vor ihrem eigenen Hirngespinst zu kapitulieren. Nicht mehr. Nie mehr!
Ein Grinsen schleicht sich auf ihre Lippen, als sie den Block zu fassen bekommt. „Es ist okay“, meint sie dunkel und löst den Stift aus der Schlaufe. „Du musst sterben.“ Mit Tinte kettet sie ihn aufs Papier.