Diese Geschichte ist Teil der lose verbundenen Story-Reihe „Weihnachtsdorf“.
trank sein Aperol aus, stellte das leere Glas auf die Konsole neben sich und schaute sich in der Elfenmenge um, die das Kontrollzentrum füllte. Alle plauderten durcheinander und unterhielten sich angeregt, bloß er war in Gedanken versunken und starrte auf seine schicken Sportschuhe, die er aus Modegründen nie zuschnürte. Die Einweihungsfeier für die neuen Reaktoren vom lokalen Atomkraftwerk im Eisberg, das den Nordpol mit Strom versorgte, hatte ihn auf einen Einfall gebracht. Noch schuldete der begnadete Autor und Regisseur seinen Leuten ein Stück für die Weihnachtsaufführung, das er unbedingt dieses Wochenende schreiben musste. Leider war ihm bis vor kurzem nichts Brauchbares eingefallen. Dieser Anlass hatte sich aber als eine Goldgrube für den Elfen entpuppt, denn was wäre besser als eine Story darüber, wie Santa nukleare Superkräfte bekam? Wie üblich hatte ihn seine Muse erhört, ihn im letzten Moment errettet. Seine Inspiration fand er schließlich im banalen Alltag. Geistesabwesend zündete er eine seiner filterlosen Bonhommes an, blies den Rauch zur Decke und musterte die gleichmäßigen weißen Paneele, an denen jemand kleine Rentiere aufgehängt hatte.
„Alter Hipster, rauch mal besser eine richtige Zigarre statt dieser Elfensargnägel“, feixte eine Stimme und eine Hand landete fest auf seiner Schulter. Erschrocken fuhr Marcel herum und sah sich seinem alten Bekannten Boris gegenüber, der eine ganze Platte Apero-Häppchen vor sich hin balancierte.
„Nein, sicher nicht“, entgegnete Marcel indigniert und pustete den Rauch demonstrativ in Boris’ Richtung. „Du hast eh schon zu viel intus, gönn dir lieber mal einen Espresso“.
Boris lachte, verschlang eines der Häppchen und schüttelte den Kopf. Kauend hielt er Marcel die Platte hin und meinte: „Mistel-Pastete mit Knoblauch und Ingwer. Musste unbedingt probieren.“
Marcel verzog angewidert das Gesicht. „Nein, danke.“
„Und, was machst du hier? Hast du nicht ein neues, dramatisches Theaterstück, das du schreiben solltest?“
„Bitte, ich bin Autor! Ich kann schreiben und gleichzeitig an Anlässen teilnehmen, wo alle wichtigen Personen aus dem Polarkreis anwesend sind. Nennt sich Networking.“
Boris schluckte das letzte Häppchen und winkte ab. „Na dann. Jetzt, da wir ein leistungsstärkeres Kernkraftwerk haben, könntest du zur Weihnacht ein Theaterstück mit einer Superhelden-Origin-Story aufführen lassen. Du weißt schon, Santa fällt in den Reaktor und bekommt so seine Superkräfte.“
Das durfte nicht wahr sein! Ausgerechnet Boris, die größte Nervensäge am Nordpol, kam auf dieselbe Idee wie er. Im schlimmsten Fall würden nun alle denken, er hätte den Kameraden kopiert. Am liebsten hätte sich Marcel schreiend in den offenen Reaktorkern geschmissen, stattdessen nickte und lächelte er höflich. „Du wirst es nicht glauben, genau das habe ich geplant.“
Der andere schnaubte amüsiert und griff sich ein Glas Eierpunsch. „Super, Mann! Eigentlich brauchst du lediglich noch einen genialen Titel, sowas wie ‚Der nukleare Nikolaus‘, ‚Der Nuke-o-laus schlägt zurück‘, ‚Niko-Man Begins‘ oder so. Keine Ahnung, du bist der Kreative hier, ich habe nur meinen Spaß.“ Aufs Glas deutend zwinkerte er. „Du weißt schon, gratis Punsch.“
Marcel biss sich auf die Unterlippe. Er hasste sich zwar dafür, doch sein Ethos verlange das Angebot von ihm: „Boris, wenn du willst, können wir in der Sache kollaborieren.“
Der Stämmige fror in seiner Bewegung ein, guckte Marcel mit offenem Mund an und seine Elfsaugen begannen geradezu zu leuchten. „Ist das dein Ernst? Oh, das wird toll! Was muss ich machen?“
„Ganz einfach, wir gehen spazieren, sehen uns das Kraftwerk an und diskutieren die Story, bis wir zufrieden sind. Dann schreibe ich das Stück und nenne dich als Co-Autor.“ Es konnte nicht so schlimm werden, versuchte sich Marcel die Sache schönzureden. Vermutlich war Boris allein wegen dem Alkohol motiviert, das sollte sich bald legen.
„Wow! Ich werde ein echter Autor, jemand, der es zu was gebracht hat, so wie du“, frohlockte Boris und folgte Marcel aus dem Raum. Dieser sinnierte derweil, wie der andere darauf kam, man hätte es als Autor zu was gebracht – er war die halbe Zeit seines Lebens bekifft, lebte vom Einkommen seiner Frau und dem Kulturfonds der Weihnachtsmannstiftung. Weil er Boris’ Freude nicht ruinieren wollte, und, zugegebenermaßen, weil er dessen Bewunderung genoss, schwieg er.
Als sie auf den Steg überm Kühlbecken traten, gestikulierte Boris nach unten auf das Wasser und gluckste: „Hm, wir könnten schwimmen gehen, bestimmt warm da unten, was?“
„Ich möchte ja nicht im selben Wasser wie die ausgedienten Brennstäbe schwimmen“, murmelte Marcel. „Na ja, immerhin ist es nicht der Reaktor.“ n
Mit einem Mal warf sich Boris in Pose, hob dramatisch die Hand und proklamierte: „Der Reaktor ist ein Faktor.“ Nach einer Pause fragte er: „Ist das Zitat gut, könne wir das irgendwie im Stück verwenden?“
„Ich denke, das kön… Klausverdammte Rentierkacke!“, stieß Marcel aus, als er über seinen Schnürsenkel stolperte. Zu allem Übel rutschte ihm sein Turnschuh vom Fuß und purzelte in die Tiefe. Boris gab ein betroffenes „Ups, so ein Mist“ von sich und im nächsten Augenblick erklang ein Platschen unter ihnen, als der Schuh sehr zu Marcels Verwirrung ins Kühlbecken tauchte.
„Ho!“, rief jemand hörbar entnervt, der Ruf hallte durch die Halle. Marcel lehnte sich übers Geländer und beobachtete, wie ein fülliger Mann in rot-weißen Badeshorts aus dem Becken krabbelte, einen Schnorchel ausspuckte und seinen langen Bart umständlich auswrang.
„San… Santa?“, stammelte Marcel ungläubig. Der Weihnachtsmann setzte seine Brille auf, die sogleich beschlug und fummelte nach seinem Mantel, während er hoch brüllte: „Hört auf mit euren Schuhen zu werfen, kommt lieber runter und schwimmt ein paar Runden, das hält fit, Hohohoho!“
Boris flüsterte Marcel zu: „Bist du sicher, unser Stück basiert nicht auf wahren Begebenheiten? Das würde einiges erklären …“
Seufzend fasste sich Marcel an die Nasenwurzel und verfluchte den Tag, an dem er sich zu diesem Blödsinn hatte hinreißen lassen. Dann zuckte er fatalistisch mit den Schultern, zog die Jacke aus und sprang übers Geländer.
Autorin: Sarah
Setting: Atomkraftwerk
Clues: Zigarre, Aperol, Espresso, Turnschuh, Knoblauch
Für Setting und Clues zu dieser Story bedanken wir uns bei Klaus Neubauer. Wir hoffen, die heutige Geschichte hat euch gefallen. Teilt sie doch mit euren Freunden auf den Social Media und schaut bei der Gelegenheit auf unseren Profilen vorbei, wo wir euch gerne mit mehr literarischer Unterhaltung begrüßen. Eine besondere Freude macht uns eure Unterstützung auf Steady oder Patreon, die wir euch mit exklusiven Inhalten verdanken. Und wenn ihr möchtet, dass wir einen Beitrag nach euren Vorgaben verfassen, könnt ihr uns jederzeit Clues vorschlagen.