Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Willkommen in der OASE“, weckte ihn eine süßlich-honigzähe Stimme. Reflexartig blinzelte er gegen das orange Licht, seine erste Bewegung im diesem neuen Körper. „Mein Name ist Mimi und ich wurde Ihnen zum entspannten Übergang zur Seite gestellt.“ Ihre zierliche Gestalt erschloss sich ihm nur schemenhaft. Sie zeichnete sich verschwommen gegen den Sonnenuntergang ab, dessen Existenz, genau wie die ihre, den Eindrücken begabter Programmierer nachempfunden war. „Ich bitte Sie, einige Minuten liegenzubleiben und Ruhe zu bewahren. Sollten Sie Beschwerden bemerken, ob physisch oder mental, lassen Sie es mich wissen und ich kümmere mich sofort um die angemessene ‚Medikation‘.“ Ihr Tonfall verlor die liebliche Viskosität, wandelte sich in dünn-sterile Sprache. In Gedanken befand er sich auf dem Stahltisch der Pathologie, er war allerdings nie dort gewesen, lediglich seine Überreste verweilten auf der kalten Oberfläche bis zu ihrem Treffen mit den Flammen. „Möchten Sie die Wartezeit in einer anderen Umgebung verbringen?“ Die Frage blieb unbeantwortet. Noch formten seine digitalisierten Lippen keine Worte, verharrten regungslos unter glanzlosen Augen. Im Nebel erschien die marode Blockhütte des Großvaters, dahinter der Teich. Das Wasser, welches seine Jugend beherbergte. „Sehr schön“, kommentierte Mimi die Reflektion seiner Erinnerung. „Ich werde Ihnen nun etwas Raum geben, ihren Zustand zu erfassen. Sollten Sie etwas brauchen, bin ich sofort zur Stelle.“ Damit flimmerte sie aus dem Sichtfeld, verschwand in die Schatten, um mit stoischer Geduld auf den nächsten Schritt zu warten. Nach und nach glitten die warmen Bilder seines Lebens an ihm vorüber; der erste Besuch des Weihnachtsmanns, Mutters Schminkkommode, das Rugby-Spiel auf dem Schulhof, der Kuss unter der Lärche, Abenteuer, Reisefieber, Anerkennung, Beförderungen, Kinder, Festmahle, Gemütlichkeit, Enkelkinder, Spaziergänge. Lange hatte sein Atem gereicht, rasch war er vergangen. Doch kein Leid offenbarte sich ihm, weder Tod noch Tränen. Da waren Tränen, dachte er stumm, bestimmt der Tod. Nein, sie haben ihn abgeschafft, ihn aus dem Gedächtnis gelöscht. Etwas klopfte an seinen Verstand, schlich ihm ins Bewusstsein, dann schlummerte er ein.
„Sie werden die kommenden Wochen in Ihrem persönlichen ‚Akklimatisierungs-Trakt‘ verbringen“, erklärte Mimi mit ihrem gewissenhaft konstruierten Lächeln. Nun war sie weit mehr als eine bloße Silhouette, eine wahre Schönheit, so makellos fehlerhaft wie allein er sie träumen konnte, detailreich modelliert nach seinen Vorlieben. „Wir möchten, dass Sie sich an ihren Aufenthalt in der OASE sowie ihren Avatar gewöhnen können, bevor Sie auf die anderen Bewohner treffen.“ Die Lachfältchen glätteten sich kurz. „Eine Vorsichtsmaßnahme, Sie verstehen?“
„Natürlich“, entgegnete er leise. Er klang wie immer, dennoch schien er sich selbst vollkommen fremd. Der Bewegung mächtig, blickte er nickend auf seine Finger.
„Vielen Dank. Wir werden im Laufe ihrer Akklimatisierung feststellen, für welchen Bereich sie sich qualifizieren. Rechnen Sie also bitte mit einem ausführlichen Evaluations-Verfahren durch unsere ‚Lokalisations-Spezialisten‘.“ Mimi trug einen blauen, enggeschnittenen Overall mit orange hervorstechenden Nähten. Auf ihrer rechten Brust, dieser wundervoll geformten Erhebung, prangte das einprägsame Logo der OASE; ein Bogen, gespannt über einer simplen Palme, auf. Der gestickte Patch drohte mit seinem dezenten Farbverlauf in Payne’s Grau auf ihrer Uniform unterzugehen.
„Lokalisation?“, hörte er sein andersartiges, skurril echtes Selbst nachhaken. „Wie meinen Sie das?“
„Oh“, demonstrierte Mimi mit ihrem Erstaunen erneut ihre authentische Programmierung. In diesem Moment der Verwirrung hielt er sie für einen wahrhaftigen Menschen, die Illusion währte leider nur flüchtig. „Wurden Sie im Vorfeld nicht informiert?“ Rascheln, gefolgt von Stille. Ihr Intellekt durchsuchte Datenbanken, ihr Gesicht erstarrte. „Ich sehe, da liegt ein minimaler Systemfehler vor. Einen Augenblick bitte.“ Ein Klicken erklang direkt in seinem Geist, dann begann der Werbefilm.
„Träumen Sie vom ewigen Leben, von der unendlichen Glückseligkeit, einer perfekten Welt, die minutiös auf Ihre individuellen Bedürfnisse geschneidert ist?“, ertönte eine sorgfältig modulierte Männerstimme, begleitet von absurd beschwingten Fotografien; Liebe wird zur Zuckerwatte erklärt, Freundschaft mit Weichzeichner-Effekten glorifiziert, Humor von Boshaftigkeit gereinigt und als lustiges Taschenbuch verkauft. Alles, außer dem Tod. „Suchen Sie nicht weiter nach irdischer Erfüllung, die Erlösung ist zum Greifen nahe, die Lebens-Revolution ist hier. Mit der Erfindung der biochemischen Speichermedien im Jahre 2042 hat unser Gründer D. B. Hobbes das Fundament für das wohl bahnbrechendste Projekt der Menschheit gelegt. Online Assimilation for Sentient Entities, die OASE, ist ein digitaler Raum, gestaltet von zahlreichen Weltenbauern, der Ihnen ein zweites, ein besseres Leben ermöglicht. Losgelöst von den unpässlichen, biologischen Einschränkungen Ihres Leibes, werden Sie in der OASE von jeglichen Ärgernissen des Menschseins verschont. Selbstverständlich kümmern wir uns in der eigenen Kremationsstätte um die fachgerechte Entsorgung ihrer sterblichen …“
„Das kenne ich schon“, murmelte er Mimis Verfehlung gutmütig übergehend. Diese räusperte sich betreten und übersprang das ihm bekannte Videomaterial, welches die Qualen eines realen Lebens zeigte; Krankheit, Unfälle, Streit, Krieg, Gewalt, so viel Gewalt.
„Hier“, meinte sie kleinlaut. Die verblichenen Bilder der menschlichen Niedertracht machten einem entspannten Szenario Platz, die Palme bog sich sanft im Küstenwind, David Bowie sang von unerschöpflichem Potential. „Da ist es.“
„Danke.“ Das Gespräch mit Mimi hatte sich in die Länge gezogen und er schwebte zwischen Neugier und Langeweile. Genau der richtige Zeitpunkt für ein Stück Weißbrot, seufzte er innerlich. Dick bestrichen mit Butter und Heidelbeermarmelade materialisierten sich seine Gelüste als schmackhafte Fata Morgana in den jung gewordenen Händen. Er biss ab und befahl schließlich: „Weiter.“
„Um Ihre volle Zufriedenheit gewährleisten zu können, bedienen wir uns des einzig bewährten Prinzips, dessen Methoden individuelle sowie globale Erfüllung gewährleisten: Utilitaristische Segregation. Nach Ihrer Ankunft in der OASE werden Ihre Persönlichkeitsmuster mitsamt allen interpersonellen, soziokulturellen und neurobiologischen Facetten im ruhigen Umfeld ausführlich analysiert. Im Anschluss bemüht sich ein Team aus Neurowissenschaftlern und Programmierern darum, Sie einer passenden ‚Volks-Kategorie‘ zuzuordnen. Wir sind stolz darauf, stabil eine dreiundneunzigprozentige Trefferquote zu erzielen. Einzig bei Aspiranten mit gesteigerten asozialen Tendenzen ist die Verpartnerung mit anderen OASE-Bewohnern keine realistische Zielsetzung, weshalb wir in solchen Fällen gegen einen geringen Aufpreis, eine ‚Individual-Matrix‘ zur Verfügung …“
„Mimi, ich vermute, Sie haben meine Nachfrage falsch aufgefasst“, unterbrach er den von futuristisch anmutenden OASE-Animationen begleiteten Werbebeitrag. „Ich will erfahren, wo ich ‚lokalisiert‘ werde. Habe ich dazu denn gar nichts zu sagen?“ Er hatte sich das alles anders vorgestellt, zumindest vermutete er das, denn zu negativen Überlegungen war er hier im Polygonkörper nicht mehr in der Lage und die Erinnerungen an all das, was vor der OASE war, vergilbten rasant.
„Ach, Ihre Testergebnisse werden derzeit bearbeitet. Bitte entschuldigen Sie die unangenehme Wartezeit, unsere Server sind außergewöhnlichen Belastungen ausgesetzt.“ Ihr Lächeln wirkte plötzlich verzerrt, unaufrichtig. Ein scharfer Stich hinter seinen Augen schreckte ihn auf, alarmierte ihn. Was war das?
„Außergewöhnliche Belastungen“, rezitierte er Mimis Aussage abwesend, abgelenkt durch das kuriose, doch ungreifbare Gefühl, etwas Entscheidendes zu übersehen. Millisekunden später, war es verflogen, ausradiert. „Okay, dann warte ich auf meine Lokalisation.“ Gleichmütig betrachtete er die Palme auf ihrem Overall, sah, wie der Küstenwind sie wiegte.
„Wunderbar. Haben Sie weitere offene Fragen?“ Als er die Aufmerksamkeit auf Mimis freundliche Züge lenken wollte, schloss sich eine eiserne Faust um seinen Magen; Schock, Panik, Schmerz, durchzuckten den Leib, dessen unnatürliche Substanz unfähig sein sollte, diese Empfindungen in wahrnehmbare Signale umzusetzen. „Wunderbar, wunderbar, wunderbar, wun-de-wun-de-Wunde, Wunde, Wunde-r, Wunder, Under-r, Rrrrr …“ Ihre filigranen Züge schmolzen regelrecht, spalteten sich zu digitalen Artefakten auf, während Mimi zu flackern begann. Sie war da, dann nicht, dann da, dann nicht, dann …; ein schreiender Welpen, madenzerfressene Augenhöhlen, ein Klingone mit eitrig-aufgerissenen, abgefeilten Schädelkämmen, ein zerschlitzter Mädchentorso. Der Tod. Da waren Tränen und der Tod, bestimmt!
„Mimi“, kreischte sein Avatar mit einer Verzweiflung im kalten Herzen, die es nicht geben durfte, nicht hier in der OASE. „Mimi, hören Sie auf, bitte, so hören Sie doch auf!“
„Wunde, Wunde-r, Wunder, Under-r, Rrrrr …“, dröhnte der blecherne Lärm aus ihrem honig-zäh vibrierenden Polygongerüst. „Rrrrrrr …“ Mimi war unerkenntlich, etwas anderes, etwas durch und durch beängstigendes; Der Tod.
Gewaltsam verdrängte eine Erinnerung alle anderen, expandierte, explodierte im Kopf, wurde zur einzigen Realität; Der Tod. Der Tod hatte sie sich geholt, versteckt unter dem Deckmantel des Krieges. Er hatte sie gefoltert, vergewaltigt, aufgeschlitzt und zerrissen. Mimi, die richtige, reale, wahrhaftige Mimi, seine Enkeltochter!
Abrupt schoss er empor, schlug dumpf gegen glühend-eisige Härte. Ein tief-verrusster Atemzug, ein letzter Schrei, verkündete seine Wiederkehr in die Realität, seinen Körper. Verblendet vom grellorangen, hautverschlingenden Gleissen der Flammen, der trauer-weißen Asche, galten seine endgültigen, finalen, aufbäumenden Herzschläge dem, was er nicht ertragen konnte.