Dies ist Sarahs Teil einer Kurzgeschichten-Kollaboration. Rahels Story findet ihr hier.
„Toby“, scheppert eine männliche Stimme ungehalten in meinen Headset-Kopfhörern. „Wo zum Teufel steckst du?“ Rasch lasse ich den Controller los und drehe die Laustärke herunter, bevor meine Gehörgänge bleibenden Schaden nehmen. Mein Helikopter gleitet weiter, wie mir ein Blick auf den Fernseher bestätigt. Gerade, als ich den Controller wieder zur Hand nehmen will, fällt mir mein linker Sneaker auf, dessen Schnürsenkel aus unerfindlichen Gründen offen sind. Ich ergreife sie und will sie zubinden, entscheide mich dann aber anders und ziehe die Schuhe aus, ehe ich es mir im Schneidersitz bequem mache. Endlich übernehme ich wieder die Kontrolle über das an ein schwarzes Insekt erinnernde Luftgefährt – keine Sekunde zu spät, denn ich wäre bald am Rand der Welt angelangt, auf dem Absatz kehrtmachen war angesagt.
Das Geplärre in meinem Headset geht weiter und ich rege mich über die grauenhafte Audioqualität sowie das Gelagge des Spiels auf. Wahre Freude kommt bei der Geschwindigkeit des Servers kaum auf!
Der Pier am Horizont wird langsam grösser und in meinem Kopf spielt Actionfilm-Musik, als ich mir ausmale, wie ich all die Spieler, die wie aufgeschreckte Ameisen über die Holzplanken rennen, mit Verderben überschütte – möge der Tod von oben sie alle ereilen, jemand muss dafür bezahlen, dass ich einen dieser gutgelaunten, glücklichen Tage habe, an denen das Morden unglaubliche Freude bereitet. Mein Finger landet auf dem X und die erste Raketen zischten auf den Pier zu.
So oft ich kann drücke ich mechanisch auf die Feuer-Taste und beobachte, wie über dem Radar die Namen meiner Opfer erscheinen, deren Leid nicht nur meinen Tag versüßt, sondern auch meine Kill/Death-Ratio aufpoliert. Etwas abwesend lasse ich weiter Vernichtung auf den Pier regnen, freue mich, wie die Lichter des Riesenrads sich in der glänzenden Oberfläche des Buzzard-Hubschraubers spiegeln und frage mich, ob es wohl so etwas wie Heli-Politur gibt. In dieser verrückten Stadt gibt es nichts, was es nicht gibt, ich beginne mir ein Leben in dieser Welt auszumalen. Irgendwie ist es eine verlockende Vorstellung, jedes Mal neu geladen zu werden, wenn man erschossen wird. Ständig erschossen zu werden dagegen … Dafür kann ich in Los Santos in High Heels und Minirock kämpfen, was in der Realität wohl niemals eine Straßenkriegerin tun würde.
„Panzer“, dringt das Wort aus dem Voice-Chat zu mir durch und reißt mich aus meiner Grübelei, denn wie jeder vernünftige Gamer weiß, ist der Panzer der natürliche Feind des Helikopters. In der Hundertstelsekunde, bevor derselbe Spieler laut „Scheiße“ ruft und bei mir als verstorben angezeigt wird, von meinen Raketen hochgejagt, fasse ich den Entschluss, den Einsatz einer Kriegsmaschine mit jedem Mittel zu verhindern. Ein hämisches Grinsen spielt um meine Lippen, auf denen wohl noch Chipskrümel kleben. „Jetzt kriegste was auf die Rübe“, murmle ich, mein ausgeschaltetes Mikrofon zu spät bemerkend. Nun ja, er wird es auch so früh genug zu spüren kriegen, denke ich schadenfreudig, als ich zum nächsten Angriffsflug beidrehe.
Dem Geschrei und Gezeter im Headset lauschend, greife ich an, ganz nach dem Motto: Töte sie so oft, bis sie gar nicht mehr an ihren Panzer denken. Ich muss herausfinden, wer dieser Panzer-Kerl ist, er scheint die akuteste Bedrohung zu sein. Heute Nacht gehört Los Santos mir, mir ganz allein, einer Wahnsinnigen in einem schwarzen Helikopter, die einsam wie der Lone Ranger ihre Runden dreht, aber für Unrecht und Unordnung sorgt. Missionen wären besser für meinen Rang und meine Finanzen, nur hat mich irgendwann das Mordfieber gepackt – ich muss es zu Ende bringen, meinen Ehrgeiz stillen, zeigen, wer hier der wahre Krieger ist. Alle glauben sie, mit Suchkopfraketen sei alles einfacher – das ist ein Mythos, auch als Königin der Lüfte ist man verwundbar und muss Energieriegel essen, wenn man Schüsse abbekommt. Wie gut, habe ich meinen Vorrat aufgestockt und meinen Fallschirm angezogen, ich bin gewappnet.
„Mark?“, schreit der Kerl panisch, den ich gerade zu Hackfleisch verarbeite. Der Unbekannte mit der Panzer-Idee antwortet, er sei beim Parkhaus. Erleichtert begreife ich, mir unnötig Sorgen gemacht zu haben, offenbar will er nur ein Auto klauen. Ich sollte wirklich lernen, die Unterhaltungen meiner Feinde besser zu belauschen, wenn sie sich schon die Mühe machen, mich über jeden ihrer Schritte zu informieren. „Komm her, Mark, du bist des Todes!“ So wie sie sich keinen Deut darum scheren, mich aus ihrer Konversation zu entfernen, genauso habe ich noch immer mein Mikrofon stummgeschaltet. Vermutlich besser so, Mark soll nicht wissen, was ich mit ihm vorhabe. Stattdessen kümmere ich mich um den anderen Typen (Toby, diesen Noob), der sich als erstaunlich agil erweist, obwohl er plump hüpfend meinen Hightech-Waffensystemen entwischt. Diese Runde würde ich ihm den Rest geben.
Als ich erneut wende, kann ich einen einsamen Kämpfer ausmachen, der auf einen Haufen Cops ballert. Ist das …? Ich sehe, wie er auf den Holzplanken steht, den langen Lauf des Scharfschützengewehrs auf mich gerichtet Zweifellos, er ist es, der große Mark, von dem ich in dieser Session so viel gehört habe. „Mark klein, starb allein …“ Nein, Singen ist nicht meine Stärke, ich bin eher aufs Morden spezialisiert. Ein letzter Treffer meiner Raketen und er wäre Geschichte, Geschnetzeltes, Hackfleisch, Püree … keine Chance, dass er mich vorher vom Himmel holt, so gut ist kaum je einer. Mein Finger spannt sich an, tippt auf die X-Taste, nur ist der Helikopter nicht feuerbereit. Gleich, noch eine Sekunde. Zack – entgegen jeder Wahrscheinlichkeit fährt ein Projektil in meinen Kopf, mein Körper fällt leblos vornüber auf die Steuerung und der Helikopter beginnt zu trudeln, dann wird alles in Schwärze ausgeblendet.
Dahin sind sie, all meine Ambitionen, meine Träume vom perfekten Massaker, zerschlagen von einem Sniper, der meinen vollen Respekt verdient hat. Doch mehr als meinen Respekt wird ihn meine Rache treffen. Von Sturheit gepackt wache ich unter dem Pier auf, versuche, mich an die neue Umgebung zu gewöhnen. Da oben sind jetzt mindestens vier Leute, die darauf sinnen, mir einen auszuwischen, weil ich ihnen mit meinem Buzzard das Leben zur Hölle gemacht habe. Natürlich könnte ich sie Hals über Kopf angreifen, mich ins Getümmel stürzen, nur, das bin nicht ich – meine Devise lautet seit jeher: Tod von oben. Wohl wissend, wie dringend ich einen Kampfjet brauche, renne ich auf meinen High Heels durch den Sand davon, ohne mit der Sohle, geschweige denn dem Absatz, einzusinken. Sie werden schon sehen, mit wem sie es aufgenommen haben!