Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Junger Mann“, begann der gute Crawford, nicht darum verlegen, das dunkle Timbre seiner Stimme aufs vollste auszuschöpfen. „Wollen Sie uns am Grund Ihrer erneuten Verspätung teilhaben lassen?“ Séadhna schluckte leer und kratzte sich beschämt an seinem Dreitagebart, bevor er den knarrenden Holzstuhl, auf welchem er eben erst Platz genommen hatte, nach hinten schob und sich tapfer den missbilligenden Blicken seiner Mitstudierenden stellte. „Nun, ich“, sagte er und räusperte sich leise, bevor er kleinlaut fortfuhr: „Ich wurde etwas aufgehalten.“ Séad wusste, dass er wegen seiner chronischen Unpünktlichkeit bereits vor langer Zeit in Ungnade gefallen war und als er sah, wie Crawford, dieser kleinkarierte Gentleman, der leider als Ausschussmitglied einiges dazu zu sagen hatte, ob seine Studiengruppe die nötigen Forschungsgelder erhalten würde, mit den Augen rollte und mit der Vorlesung weitermachen wollte, fiel er ihm ins Wort:
„Ich wollte wie immer den Bus zur Pearse Station nehmen, aber währendem ich auf den Bus gewartet habe, konnte ich hören, wie ein Kokainhändler versuchte einem jungen Mädchen etwas anzudrehen, also habe ich versucht ihn zu vertreiben.“ Ein leises aber anerkennendes Raunen ging durch die Bänke und Séadhna fügte nur wiederwillig und etwas verlegen an: „Aber leider hat mein Vorhaben nicht geklappt und weil der Typ wirklich aufbrausend war, habe ich mir gedacht, dass es vielleicht besser wäre einen anderen Bus zu nehmen. Deswegen bin ich auch ausnahmsweise über die Grafton Street auf den Campus gekommen und gerade als ich die letzten Meter des Provost’s Garden hinter mir gelassen hatte, wurde ich von einer asiatischen Touristin angehalten, die wissen wollte, wo die alte Bibliothek ist und als ich ihr den Weg gezeigt hatte, drückte sie mir zum Dank eine seltsame Frucht in die Hand. Das Ding sah ein wenig aus wie ein kleiner roter Kaktus und natürlich musste ich erst einmal googeln und herausfinden, ob ich das auch wirklich essen kann und dabei habe ich wohl ein wenig die Zeit vergessen.“ Crawford schüttelte entmutigt den Kopf und machte sich die mentale Notiz, fortan seine Zeit nicht mehr mit dem Jungen zu vergeuden. „Es war eine Kaktusfeige. Wirklich lecker!“, fuhr Séad stolz fort, sein nervöses Lächeln verging ihm aber, als er in die genervten Gesichter seiner Kommilitonen blickte. „Egal. Auf jeden Fall bin ich danach eilig weitergelaufen, aber auf dem Vorplatz hinter dem College-Park bin ich Leela begegnet und weil ich wissen wollte, warum sie eine Augenklappe trug, wollte ich nur kurz mit ihr sprechen. Aber dann wollte sie mich einfach nicht gehenlassen, erzählte ununterbrochen vom Friseursalon ihrer Schwester und wollte unbedingt wissen, was mein Name bedeutet. Also habe ich ihr erzählt, dass ich namentlich ein Reisender wäre und ich deshalb vor hätte die alte Sternnavigationstechnik zu erlernen und ich konnte ihr nur entkommen, weil sie dumm genug war am helllichten Tag nach Sternen zu suchen und von der Sonne lange genug geblendet wurde, so dass ich flink durch eine der kleinen Bauminseln flüchten konnte.“
Einige der Studenten begannen zu feixen und der gute Crawford seufzte gequält. „Junger Herr, was hat das alles damit zu tun, dass Sie mir mit ihrer Unpünktlichkeit den letzten Nerv rauben?“, fragte er nun ungeduldig, währendem er beiläufig seinen Laptop schloss und sich anschließend ächzend an das Rednerpult lehnte. „Dazu komme ich gleich“, sagte der Angesprochene aufgeregt, bevor er eilig von seiner langen Reise über den Universitätscampus weitererzählte. „Nun, ich war gerade zwischen dem Rugbyfeld und dem Park, als ich auf Jannik traf, der zum Parkplatz wollte, also liefen wir gemeinsam weiter und unterhielten uns ein wenig, bis wir von diesem Typen aus dem Rugbyteam, der mit Jannik zusammen an einem Projekt arbeitet, angesprochen wurden. Er hat wohl gewusst, dass Jannik zu seinem Auto will und hat ihn gefragt, ob er so freundlich wäre etwas beim Chemiegebäude vorbeizubringen. Doch unterwegs hat Jannik das Päckchen geöffnet, wurde ungehalten und schwafelte etwas davon, dass die Viskosität nicht richtig wäre, deswegen haben wir wieder umgedreht und dem Rugby-Typen das Packet wieder zurückgegeben. Als die beiden dann zu streiten anfingen, war ich richtig froh Siobhán zu sehen, die gerade vorbeischlenderte und weil die Gelegenheit gerade so schön war, habe ich versucht mit ihr ins Gespräch zu kommen. Doch leider kam Tray, Janniks quirliger Kumpel, irgendwann vorbei und funkte mir mit Siobhán dazwischen. Es ist kaum zu glauben, aber der Idiot hat es doch wirklich geschafft, unsere Unterhaltung irgendwie auf das Thema Jenseits zu bringen – egal wie hübsch das Mädchen ist, an meine tote Mutter zu denken ist ein richtiger Stimmungskiller!“, nörgelte er entgeistert und fuhr mit seinen Fingern, aufgebracht über Trays Frechheit, durch seine dichten, rotblonden Haare.
„Naja, auf jeden Fall wollte ich dann sofort weg und weil ich ja nicht mehr viel Zeit übrig hatte, versuchte ich das Damenvolleyballteam zu ignorieren, das auf dem Rasen vor dem Zoologiegebäude trainierte. Ich war so entschlossen, heute nicht zu spät zu kommen, dass ich sogar die beiden Anzugstypen ignorierte, die vor dem Seitenausgang des Computerraums an einem kleinen Stand über Studentenjobs informierten und Visitenkarten verteilten – und das obwohl ich wahrscheinlich bald einen neuen Nebenjob brauche, weil meine Unpünktlichkeit im Kaffeehaus auch nicht so gut ankommt.“ Séadhna hüstelte betreten und hoffte vergeben auf auflockerndes Gekicher. Er hatte sich früher immer auf die Wirkung seines Charmes verlassen können, um seine offensichtlichen Charakterschwächen auszugleichen, doch seitdem er an die Universität ging, schien es immer mehr Leute zu geben, die seine Marotten nicht charmant, sondern nur nervig fanden.
„Mister Séadhna, wir haben genug gehört“, begann der gute Crawford und als er seinen Laptop wieder öffnete um endlich mit der Vorlesung fortzufahren, streckte Séadhna aufgeregt und winkend seine Hand in die Höhe, so dass der Professor mit der vollen Kraft seiner Baritonstimme losdonnerte: „So unterhaltsam Ihre Ausreden auch sein mögen, Sie setzen sich jetzt gefälligst hin und halten ausnahmsweise den Mund, ansonsten sehe ich mich dazu gezwungen, Sie ein für alle Mal aus meinem Kurs zu werfen!“ Eingeschüchtert tat Séad wie ihm befohlen wurde und ließ sich wieder auf den knarzenden Holzstuhl fallen, doch noch ehe er das Notizheft aus seinem Rucksack fischen konnte, begannen alle wild durcheinander zu flüstern, bis eines der Mädchen in der letzten Reihe, wahrscheinlich Lena Crawford, schlussendlich sagte: „Wir wollen die Geschichte zu Ende hören.“ Séadhna grinste schelmisch und blickte gespannt auf seinen Professor, der in dem Moment dabei war auf seinem Laptop die richtige Folie zu finden, welche seinen Studenten die Wichtigkeit von Atemtechniken bei der Bewältigung von Agoraphobie näherbringen sollte. „Ach, verdammt!“, rief er resigniert aus und schnippte untypisch hitzköpfig einen seiner Stifte vom Pult. „Also los, ich will auch wissen wie diese verflixte Campus-Odyssee weitergegangen ist.“ Nun brach der ganze Vorlesungssaal in Gelächter aus und Séad musste kurz warten, bis wieder Ruhe eingekehrt war, um seine Erzählungen weiterführen zu können. Er berichtete von dem indischen Austauschstudenten, den er direkt hinter dem Informationsstand getroffen hatte und der nicht sehr angetan war von Séads Vorliebe für Rindfleisch und davon, wie er so nahe am Ziel, vor dem Hamilton-Gebäude Elen entdeckte, deren bezaubernde Gestalt und Anblick beim Tanztraining ihn so sehr fesselten, sodass er die Zeit erneut vergaß. Wahrscheinlich, so spekulierte er, hätte er es sogar noch rechtzeitig geschafft, wäre er nicht in ihre liebreizende Fänge geraten.
„Nun, meine Lieben“, sagte der gute Crawford, nachdem Séadhna seine Geschichte fertig erzählt hatte und die Uhr verriet, dass die Vorlesung schon seit einer guten Viertelstunde vorbei gewesen wäre. „Wir werden wohl ein anderes Mal über Atemtechniken sprechen und vergessen Sie nicht, in ihrer Anschlussvorlesung ausschweifend zu erklären, weshalb Sie zu spät gekommen sind.“ Schlussendlich verließen die Studenten gut gelaunt das O’Reilly-Institut und der gute Crawford höchstpersönlich begleitete seinen um keine Ausrede verlegenen Studenten in dessen nächstes Seminar – schließlich sollte er nicht wieder auf eine Irrfahrt geraten.