Dies ist der 1. Teil der Fortsetzungsgeschichte „Ein gefährlicher Ort“.
Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Meghan hatte es sich auf der Weide bequem gemacht und genoss die Sonnenstrahlen, die durch den herbstlichen Morgennebel fielen. Noch war die Staffelei vor ihr weiß, die Farbpalette stand bereit. Heute wäre es so weit, da war sie sich sicher, sie hatte ein gutes Gefühl, sogar der Sonnenbrand des Vortages war fast abgeheilt. Sie tauchte den Pinsel in die Farbe und begann das wunderbare Panorama zu malen, Strich für Strich. Sie nahm sich vor die ganze Szene, inklusive des Nebels, abzubilden, also war Eile geboten, bevor die herannahende Hitze die Idylle vertrieb.
Meghan glaubte, die Stimmung getroffen zu haben, legte ihr Werkzeug weg und wickelte die Leinwand in ein Tuch ein. Das Gemälde würde prima in den Speisesaal passen, die Wand mit den Namen der verstorbenen Sträflinge könnte ruhig etwas Auflockerung gebrauchen und wäre so bedeutend weniger deprimierend. Allzu lange konnte sie nicht verweilen, das wusste sie. Bald schon ginge sie zurück zum Gefängnis, um zu Mittag zu essen, ihre Waffen zu holen und auf die Jagd zu gehen. Routiniert nahm sie ihr altes Funkgerät vom Gürtel und drückte die Sendetaste: „Steve, bist du da?“
„Ja“, knisterte die Antwort nach kurzem. Der arme Steve, dachte sie sich. Seit er von einem Säbelzahntiger angefallen worden war, schob er Dienst im Wachturm, vermutlich würde sein Bein nie wieder richtig verheilen. „Steve, sind Raubtiere unterwegs oder ist der Weg frei?“
„Hier sieht alles sauber aus, Meg. Kannst hochkommen, wenn du so weit bist. Ich gebe dir Bescheid, sollte sich was tun.“
„Danke, bis dann.“
Zufrieden mit der Antwort steckte sie den Funk weg. Sie hätte nicht nur eine einzige Pistole auf ihren kleinen Ausflug mitnehmen sollen, doch so gut wie Meghans Laune war, machte sie sich darüber kaum Gedanken, ein Fehler, den sie sogleich bereute. Schwere Schritte ließen den Erdboden erzittern, Vögel stieben panisch auf und mit einem Adrenalinschub huschte Meghan in ein nahes Gebüsch. „Shit“, zischte sie, ihre Nachlässigkeit verwünschend, sie wäre nicht bereit, für ein Gemälde zu sterben. Vorsichtig linste sie durch die Zweige und beobachtete gebannt, wie ein Mammut auf die Weide trottete. Käme es in ihre Richtung, müsste sie rasch aufs Fahrrad springen und ihre Siebensachen liegenlassen, ihr rostiger Revolver war dem Biest kaum gewachsen. Mammuts konnten problemlos alles und jeden platttrampeln, wenn ihnen danach war. Doch dieses Urzeitvieh schien friedlich gesinnt und scherte sich keinen Deut um sie, sondern knusperte am Unterholz des nahen Waldrandes. Meghan atmete auf und trat aus dem Dickicht, langsam, um das Vieh nicht aufzuschrecken.
Trotz ihrer Anspannung musste sie sich eingestehen, wie majestätisch der Anblick war – sie bevorzugte Mammuts vor den Pterodaktylus-Flugechsen, die ihren Weg hin und wieder kreuzten. Ein Teil von ihr verstand, was diese Insel für Menschen derart reizvoll gemacht hatte, ein wundervolles Reservat für ausgestorbene Arten weitab von jeglicher Zivilisation. Aber, wie hätte es anders sein können, die Geschichte endete natürlich damit, dass die Touristen zu Snacks für die Fauna wurden und die Insel geräumt worden war.
Die Mittvierzigerin packte ihre Siebensachen zusammen, stets angespannt nach weiteren Viechern lauschend, belud ihren Fahrradanhänger und dachte sich, dass die Regierung so den perfekten Ort für eine Sträflingskolonie gefunden hatte. Als ihr der Richter die Wahl zwischen der Todesstrafe und der Verbannung gelassen hatte, war ihr die Entscheidung leichtgefallen. Zudem durfte jeder Häftling eine Sache mitbringen und vernünftig, wie sie war, wählte sie eine Pistole mit Munition. Andere Dinge, zum Beispiel ihre Malutensilien, ein paar Bücher und die zusätzlichen Waffen, hatte sie von weniger glücklichen Sträflingen geerbt. Ja, die kaum einer hielt auf der Insel lange durch, obwohl das alternde Gefängnisgebäude Schutz vor der erbarmungslosen Natur bot. Schlussendlich konnte sich niemand auf ewig darin verschanzen, wer überleben wollte, musste zum Gärtnern oder Jagen herausgehen und lief Gefahr, von irgendeiner prähistorischen Bestie verschlungen zu werden. Meghan kümmerte das bereits kurz nach ihrer Ankunft nicht mehr, denn wider Erwarten blühte sie richtiggehend auf. Die frühere Regimekritikerin erlebte einen Kick, anderen beim Kampf um Leben und Tod zuzusehen, selbst darin verwickelt zu werden. Hier draußen gab es keine Gedankenpolizei, keine Kameras, keine Regenten. Sie war angekommen, nichts konnte sie aufhalten. Nun ja, fast, gestern hatte sie im Savannen-Distrikt einen Kaktusstachel abbekommen, ihre linke Pobacke schmerzte noch immer von dem Scheißding. Dafür spendeten die Tabak- und Kokafelder Trost, wie in jeder unbewachten Sträflingskolonie florierte der Anbau von Drogen auch auf der Insel.
Meghan wandte sich wieder um, das Mammut war mittlerweile im Dickicht verschwunden. Zeit für sie, sich aufs Fahrrad zu schwingen und den Hügel hoch zu pedalen. Zu Beginn war sie auf dies Lichtung gekommen, um Pläne zu schmieden, wie sie aufs Festland zurückkehren und es dem Regime heimzahlen könnte. Dann, eines Tages, als wäre ein Schalter umgelegt worden, war sie zum Schluss gekommen, dass es ihr hier besser gefiel und sich Rache allein deshalb nicht lohnte. Zweifelsohne würden die Entscheidungsträger der Regierung ebenfalls verurteilt werden und ihr folgen, totalitäre Staaten tendierten dazu, sich selbst zu säubern, zumindest die eine Bestie durch eine andere zu ersetzen. Und seither wartete sie geduldig darauf, die ersten dieser Drecksäcke auf die Jagd in den Dschungel zu begleiten, sie dort noch größeren, fressgierigeren Bestien vorzustellen.
Von der Radtour hungrig geworden, bog sie auf den Weg zum Gefängnis ein. Sie hielt es für unwahrscheinlich, selbst den Viechern zum Opfer zu fallen. Vermutlich war es Selbstüberschätzung, aber die nahezu zehn Jahre im Exil gaben ihr Recht, ihre Sinne waren geschärft wie nie zuvor.
„Ja, hier ist es traumhaft“, murmelte Meghan, als der dichte Wald einer weiteren Wiese Platz machte und die Sicht auf den zerfallenden Maschendrahtzaun freigab.
Das Funkgerät knackte, gefolgt von einem panischen Ruf von Steve: „Meg, pass auf! Wir haben …“ Der Rest wurde vom unmenschlichen Kreischen einiger Flugsaurier übertönt, das zwischen den Bergen widerhallte. Sie hatte angehalten, war vom Fahrrad gesprungen und duckte sich hurtig unter die Äste einer Tanne, als einige Schemen durch den Himmel schossen. Die nahezu nutzlose Pistole in der Hand verfluchte sie, kein Gewehr mitgenommen zu haben und schwor sich, diesen Fehler nie wieder zu machen.