„Mach schon, Mann”, drängelte Dejan, der nervös von einem Bein aufs andere hüpfte und dabei mit seiner Zigarette beinahe ein Loch in Moiras Bluse gebrannt hätte. „Scheiße, der ist ja völlig außer sich“, bemerkte Nina, mehr entnervt als besorgt und ignorierte ihren aufgedrehten Kumpel aber gleich wieder, um ihre Nase zurück ins Buch zu stecken und weiterzulesen. „Jetzt gib endlich den Joint her, du Wixer!“, fauchte Dejan weiter und Hari, der das aufgebrachte Hin und Her seines Kameraden nicht mehr ertragen konnte, wandte sich ihm zu und sagte betont beiläufig: „Mensch, das ist ja nicht zum Aushalten!“ Schließlich griff er energisch nach dem Räucherwerk in Andrejs Hand und reichte es Dejan, welcher es mit strahlendem Lächeln entgegennahm und sofort einen tiefen Zug inhalierte. „Ah, das ist besser.“
Nadja, die sich nun endlich von Yashas Lippen lösen konnte, starrte kurze Zeit auf ihren selig kiffenden Bruder und gab zu bedenken, dass sein Verhalten vielleicht nicht normal sei, doch niemand wollte ihre Sorge verstehen. „Naja, wenigstens springt er nicht mehr rum wie ein Frosch“, entgegnete Moira kühl, obschon sie insgeheim etwas traurig war, dass der heranwachsende Junge bald zu zugedröhnt sein würde, um ihren Hintern gierig zu betrachten. Sie hatte Dejan schon als kleines Mädchen gemocht, als er noch im Versteckten mit ihren Puppen gespielt hatte, doch seit Sexualhormone ihren Körper in ein andauernden Chaos gestürzt hatten, erwischte sie sich ständig dabei, wie sie sich wünschte, er würde statt mit Puppen mit ihr spielen.
Als zwei ältere Damen auf ihrem abendlichen Spaziergang der Stadtmauer entlang vorbeischlenderten, wurden die Jugendlichen verdächtig ruhig, scharrten mit ihren Füssen auf dem gepflasterten Boden, betrachteten andächtig den Sonnenuntergang, oder unterhielten sich gezwungenermaßen über die Hausaufgaben, die außer Nina niemand gemacht hatte. Nur Dejan winkte den beiden übermütig zu und schien dabei ganz vergessen zu haben, dass er noch die Haschischzigarette zwischen die Finger geklemmt hatte. „Guten Abend die Damen“, rief er ihnen freundliche zu, bevor Yasha zu ihm rüberflitzte und ihm das Corpus Delicti rasch aber sorgfältig, so wie mit einer Pinzette, aus der Hand zupfte und ihn danach mit der Faust in den Oberarm boxte. „Sag mal, spinnst du?“, wollte der Grössere erbost wissen, währendem Dejan ihn nur verständnislos angrinste und die beiden Frauen langsam weiterzogen. „Was denn?“, fragte er dann und strich sich seine kurzen Fransen aus der Stirn, bevor er gelassen fortfuhr: „Ich wollte doch nur höflich sein und überhaupt, es ist ja nicht so, als würde man mich wegen einem kleinen Joint gleich nach Guantanamo verfrachten.“ Kurzes Schweigen folgte und die Freunde schienen zu überlegen, was wohl die aktuelle Strafe für Cannabiskonsum war, bis schließlich seine Schwester zu bedenken gab: „Das nicht, aber wenn du Pech hast, wirst du polizeilich vermerkt.“
„Na und?“, fragte Dejan rhetorisch, bevor er Nadjas Schal von der Sitzbank klaubte und ihn sich, sehr zu Haris Amüsement, betont feminin über die Schulter warf. „Ich will schließlich kein Politiker werden, also sehe ich da kein Problem.“ Nun kicherte Hari auf und wandte schelmisch ein, dass eher seine latente Homosexualität und nicht das Kiffen ihm den Eintritt in den Senat verbauen würde. Moira knirschte mit den Zähnen und mischte sich sofort in die Diskussion ein, immerhin wollte sie nicht, dass ihr zukünftiger Ehemann als Schwuchtel betitelt wurde und so begann eine weitere, nicht endend wollende Streiterei in der Gruppe, währendem Nina noch immer unberührt in ihrem Buch las.
„Man weiß ja nie“, sagte Yasha, der seine Freundin bei dem erneuten Versuch unterstützen wollte, ihren Bruder von der Wichtigkeit einer guten Ausbildung zu überzeugen. „Vielleicht überlegst du es dir irgendwann mal und willst doch noch in die Regionalpolitik einsteigen.“ Erwartungsvoll blickte er zu Nadja und hoffte auf einen kleinen Kuss, doch Ninas lautes Gelächter lenkte alle Aufmerksamkeit weg von seinem gut gemeinten Ratschlag. „Dejan als Politiker, nun seid mal nicht albern“, brachte sie zwischen zwei Glucksern hervor und entsorgte dann ihren Kaugummi mit einem gekonnten Wurf in der Mülltonne. „Was soll das heißen?“, wollte Dejan wissen und zog eine seiner buschigen Augenbrauen hoch. „Ja, Nina, was willst du damit sagen?“, forderte nun auch Moira zu erfahren. „Ihr wisst schon“, murmelte der Bücherwurm der Gruppe etwas kleinlaut und versuchte die augenblicklich angespannte Stimmung etwas zu entschärfen. „Ich meine ja nur, es ist doch eher unwahrscheinlich, dass Dejan zum Starpolitiker wird.“ Sie konnte fühlen, wie alle Augen auf sie gerichtet waren und wartete nur darauf, dass ihre Freunde gleich über sie herfallen würden. Es gab nicht viele Regeln unter ihnen und freundschaftliche Hänseleien waren an der Tagesordnung, doch es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass man sich nicht über die relevanten Unzulänglichkeiten der anderen lustig machen darf und Nina hatte dieses Gebot eben gebrochen.
Hari war der einzige, der nicht über Nina herfiel, wahrscheinlich deswegen, weil er die Hausaufgaben für Morgen noch nicht von ihr kopiert hatte, doch er hielt sich lediglich zurück und versuchte nicht, den Streit zu schlichten. „Weißt du was, du bist doch nur neidisch, weil du eine Langweilerin bist“, vermutete Nadja aufs Geratewohl, doch trotz ihrer Wut auf Nina wollte es ihr nicht ganz gelingen, ihre eigenen Zweifel zum Lebenswandel ihres Bruders zu unterdrücken. Wenn es nach ihrem Willen gegangen wäre, hätte Andrej diese Streberin nie mitgebracht, dachte sie sich, denn sie hatte Nina noch nie leiden können und war überzeugt, dass sie nur eine leidige Spaßbremse war, seit dem Tag an dem sie zum ersten Mal mit ihnen zu ihrem Plätzchen auf der Stadtmauer gekommen war. Yasha legte liebevoll seinen Arm um ihre Taille und bat sie, das Thema doch fallen zu lassen, doch Nadja war so außer sich, dass sie gehässig fortfuhr: „Was willst du überhaupt hier? Du liest ja sowieso nur in deinen dummen Büchern!“
„Wenigstens verschwende ich meine Zeit nicht mit Rumvögeln und Biertrinken, um dann irgendwann als Putze zu enden, so wie du“, antwortete die Angesprochene prompt, nun nicht mehr dazu bereit, sich von dem beliebtesten Mädchen der Klasse unterkriegen zu lassen. Andrej und Hari warfen sich einen vielsagenden Blick zu und obwohl die beiden sich nicht inmitten des Gefechts hätten wiederfinden wollen, konnten sie ihre Schadenfreude darüber, dass Dejans Dummheit und Nadjas Hochmut nun endlich zur Sprache kamen, nicht ganz verheimlichen.
„Wie bitte?!“, kreischte Nadja und löste sich aus Yashas Umarmung. „Willst du damit sagen, ich wäre eine Schlampe?“ Nina holte tief Luft, konzentrierte sich auf ihren Herzschlag und wollte sich bremsen, als ihr Gegenüber noch einen draufsetze und ihr knallhart sagte: „Was glaubst du eigentlich, wer du bist, du hässliche Planschkuh?“
„Ja, Nadja, genau das will ich damit sagen! Du bist genauso unterbelichtet wie dein Bruder und ihm hier beschönigende Zukunftsprognosen um die Ohren zu hauen wird daran auch nichts ändern – so viel Euphemismus grenzt an Zynismus und du machst dich damit nur lächerlich.“ Nun gab es kein Zurück mehr und während Moira leise anfing zu schluchzen und sich an Andrej klammerte, wusste Nina, dass sie heute wohl ihren letzten Abend am Treffpunkt der Clique auf der Stadtmauer verbracht hatte.
„Also das bringt mich jetzt echt auf die Palme“, platze es aus Dejan heraus, der sich bisher zurückgehalten hatte, obwohl die Auseinandersetzung eigentlich wegen ihm angefangen hatte. „Ich bin überhaupt nicht dumm, Bitch, ich sehe nur nicht ein, wieso ich solchen Scheißdreck wie Hausaufgaben machen soll. Würde ich mich reinhängen, wäre ich bestimmt tausendmal intelligenter als du!“ Ein leises Lachen von Hari, der mittlerweile seine Handykamera auf die für ihn unterhaltsame Szene gerichtet hatte, war zu hören, ansonsten wagte sich lange Zeit niemand etwas zu sagen.
„Du willst mir also weismachen, dass es nicht schlimm ist, dumm zu sein, weil man zu faul zum Lernen ist?“, fragte Nina schlussendlich irritiert und schaute sich verständnislos in der kleinen Runde um, bevor sie hinzufügte: „Scheiße Dejan, das macht alles ja nur noch dümmer. Was bist du nur für ein Vollidiot?“ Moiras Nase lief vom Weinen und Andrej reichte ihr ein Taschentuch, währendem Nadja und Dejan offensichtlich gleich vor Wut explodieren würden und Yasha hilflos dazwischenstand. „Verschwinde und komm ja nie wieder angekrochen, du Verliererin!“, verlangte Nadja und wandte sich, um einen vor Überlegenheit strotzenden Tonfall bemüht, ab und Dejan fügte absichtlich arrogant hinzu: „Ja, hau ab du Streberin, es will sowieso niemand dein Freund sein.“
Auf dem schmalen Weg, der über die Stadtmauer führte, liefen einige Ameisen, so dass Nina vorsichtig sein musste, sie nicht zu zertreten. „Und, freust du dich auf die Schule morgen früh?“, erkundigte sich Andrej scherzhaft und erntete dafür ein genervtes Stöhnen von seiner Freundin. „Ach halt doch die Klappe“, entgegnete Hari und klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter, als die drei durch das kleine Tor am westlichen Ende der Mauer ankamen. „Das wird schon wieder werden, du wirst schon sehen.“
„In zwanzig Jahren, wenn du am Obersten Gerichtshof arbeitest und Nadja bei dir putzt, werdet ihr Dejan gemeinsam im Gefängnis besuchen und über die ganze Sache lachen können, das verspreche ich dir.“ Andrej lachte laut auf, grüßte die beiden Damen, die auf dem Rückweg ihres Spaziergangs nochmal an ihnen vorbeiliefen und ignorierte den bösen Blick, den Nina ihm zuwarf. Das Tor quietschte als sie es aufschoben und Hari schlug vor, die Geschehnisse des heutigen Abends vorerst ruhen zu lassen, bevor sie durch den schmalen Spalt hindurchschlüpften und die Parkbank auf der Stadtmauer drei ihrer besten Gäste verlor.