Ab und an wenn Jackie auf dem großen, schwarzen und auf Hochglanz polierten Konzertflügel saß, fragte sie sich, was genau sie eigentlich hier tat. Sie hielt eine dünne Zigarette in der Hand, obwohl sie im Konzertsaal eigentlich nicht rauchen durfte und schaute kurz auf ihr elegantes, schwarzes Abendkleid und die hochhackigen Schuhe. Bisher hatten alle ihr Laster schweigend hingenommen und verstanden, dass ihre rauchige Stimme ihr Kapital war, denn Jackie war eine berühmte Jazzsängerin.
Sie sang einfach weiter, Zeile für Zeile rollten die Worte des alten Songs über ihre Lippen. Sie hatte genug Übung und außerdem die praktische Gabe, dass sie sich nicht wirklich aufs Singen konzentrieren musste, sodass sie ihre Gedanken wandern lassen und dazu ihrem eigenen Gesang lauschen konnte. Manchmal reiste in ihrem Kopf an einen anderen Ort, sei es nun ein realer oder einer, den sie in ihrer Fantasiewelt erschaffen hatte. Sie hatte gelernt ihre Mimik gut im Griff zu haben, damit das Publikum ihr den Pathos, die Überzeugung, die sie in ihre Songs zu legen pflegte, weiterhin abkaufte. Vielleicht starrten ihre Zuhörer auch bloß auf ihre langen Beine und den tiefen Ausschnitt, so genau wusste Jackie das nicht und wenn sie offen sein sollte, war ihr das auch gleichgültig. Nicht, dass ihr die Musik per se nicht wichtig war, ganz im Gegenteil! Doch das Publikum, die ganze Show, die sie für die Leute im Zuschauerraum hinlegte, interessierten sie nicht. In ihrer Welt gab es nur ihre Stimme, die Klänge des Pianos und die Songzeilen. Jedes Lied war für sie eine andere Reise, ein anderes Stimmungsbild. Wenn Jackie die Augen schloss, konnte sie den Wald sehen, konnte eine Eule hören, die im dichten Nebel der Morgendämmerung nicht zu erkennen war, oder fühlte den warmen Atem eines Pferdes auf ihrer Haut.
Automatisch und ohne nachdenken zu müssen erkannte sie die letzten Klänge der Melodie und wurde unsanft aus ihrem Wachtraum gerissen. Erst im letzten Moment konnte sie verhindern, zusammenzufahren. Rasch öffnete sie die Lider, nur um zu begreifen, dass alles in bester Ordnung war. Sie lächelte noch immer glückselig, ihren beinahe heruntergebrannten Glimmstängel zwischen ihren rot manikürten Fingerspitzen und das Publikum wirkte gebannt.
Für einen kurzen Augenblick war sich Jackie nicht sicher, welcher Song als Nächstes an der Reihe war, diesmal hatte sie ihre Gedankenreise etwas zu weit entführt und sie hatte Mühe, den Faden wiederzufinden. Das war ein Problem, das sie früher nie gehabt hatte, sie würde sich irgendwie darum kümmern müssen. Doch alles zu seiner Zeit.
„Pathos, altes Mädchen“, ermahnte sie sich mit ihrer inneren Stimme und lehnte sich etwas weiter zurück, wobei sie aufpassen musste, nicht mit ihren Samthandschuhen auf der schwarzen Platte abzurutschen. Der Geruch von Glasreiniger stieg ihr in die Nase und sie konnte noch gerade verhindern, verwirrt die Stirn zu runzeln und laut auszurufen: „Welcher Vollpfosten putzt denn einen teuren Konzertflügel mit Ajax?“
Doch sie durfte sich jetzt nichts anmerken lassen. Während ihr auffiel, dass der Lichtkegel vom Scheinwerfer ihre nahezu weißen Oberarme wärmte, spielte der Pianist die ersten Noten des nächstens Stückes so dass Jackie sofort wusste, was sie jetzt singen musste. Ihre Verstimmung machte einer neuen Bilderflut Platz und sie stand an einer schmuddeligen Straßenecke in Chicago und sah auf den regennassen Asphalt, auf dem sich unzählige Leuchtreklamen spiegelten. Natürlich waren ihre kleinen Reisen sehr stereotyp, doch das störte Jackie nicht, Hauptsache sie funktionierten für sie und gaben ihr das, was sie brauchte.
So lange ihr Verhalten ihr Image nicht störte, war sie frei zu tun und zu lassen, was sie wollte. Sie hatte nicht versucht ihr blaues Auge zu überschminken, das sie sich auf denkbar dumme und tollpatschige Art selbst beigebracht hatte, als sie mit dem Thera-Band trainiert hatte, als das Band von ihrem Fuß abgerutscht und ihr ins Gesicht geschnappt war. Sie hatte sich dafür ziemlich ausgelacht, doch ihre Agentin war sofort auf eine effizientere Idee gekommen und hatte vorgeschlagen, dass sie es mit demütigem Stolz tragen solle, am besten so, dass auch wirklich alle es sahen. Als ein Journalist sie vor der Vorstellung vorsichtig danach gefragt hatte, hatte sich Jackie doch sehr zusammennehmen müssen, nicht in Gelächter auszubrechen. Doch sie hatte den Rat ihrer Agentin zu Herzen genommen und nur „Keinen Kommentar“ gemurmelt. Nun würden die Klatschblätter sicher bald darüber spekulieren, wer denn nun die unverheiratete „Femme Fatale“ verprügelt haben mochte.
Früher hätte Jackie sich für solche Täuschungsmanöver geschämt, sich gedacht, dass man niemals so tief sinken konnte, doch sie hatte rasch gelernt, dass im Showgeschäft alles falsch war, alles Teil einer Marke, die man richtig präsentieren musste. Ihr bestes Label war nicht so sehr ihr Sex-Appeal, den sie zweifellos hatte, sondern ihr plakativer und überzeichneter Pathos. Dieses kleine Wort war alles, was sie brauchte. Die Frauen wollten so sein wie sie, unergründlich und begehrenswert und die Männer wurden durch die Dramatik in ihren Gesten magnetisch angezogen, ohne dass sie sich dagegen hätten wehren können. Jedenfalls hatten ihre Marketingleute das behauptet.
Pathos, was für ein schräges Wort, überlegte Jackie, die ihre momentane geistige Reise längst vergessen hatte und jetzt über die Merkwürdigkeiten des Lebens grübelte, natürlich während sie den Song mit dem Titel „Oddities“ sang. Sie hatte ihre Karriere nicht wegen Ruhm und Geld gewählt, sondern weil sie das tun wollte, was sie erfüllte, weil sie sich selbst sein wollte. Es hatte nicht einmal ein paar Monate gedauert, bis sie verstanden hatte, dass es so etwas wie Echtheit in diesem Geschäft nicht gab, sondern nur Image, Projektion und Marketing. Für sie als Marke funktionierte Pathos offenbar wunderbar, jedenfalls hatten ihr alle dazu geraten und so hatte sie nicht allzu lange mit sich selbst gerungen, bis sie begonnen hatte, diese Strategie konsequent umzusetzen.
Alles war Show, das Zwanzigerjahre-Outfit, jede Bewegung, jedes Lächeln und jedes Drama. Jackie hatte ihre Persona mittlerweile so gut übernommen, dass sie überzeugt war, eines fernen Tages sogar mit Pathos zu sterben– wie auch immer das gehen sollte. Sie aß in der Öffentlichkeit kein Fast Food mehr, spielte ihre Rolle sogar, wenn sie mit ihrem Hund Gassi ging und hatte seit längerem die Spucktüte im Flugzeug nicht mehr benutzt. Jasmine, wie sie früher geheißen hatte, hätte das alles noch getan, doch Jackie war anders, Jackie konnte so etwas niemals tun, ohne ihren Zauber zu verlieren. Sie war tiefgründig und doch nur Oberfläche. Sie hätte sich nie ausgemalt, dass sie sich eines Tages selbst zu etwas anderem verwandeln würde, zu einer Fata Morgana ihrer selbst, die man ablichten und auf Zeitschriften-Cover drucken konnte. Und während sie mit ihrer rauen Stimme die letzten Zeilen des Songs zum Besten gab, begriff sie zum ersten Mal, dass sie ihre neue Persona nicht nur mochte und genoss sondern immer mehr zu ihr wurde, Konzert für Konzert ein kleines Bisschen mehr.
Hallo Sarah,
da ist dir wieder eine sehr schöne Geschichte gelungen. Glückwunsch.
Viele Grüße
Ann-Bettina
Hallo Ann-Bettina,
Da sage ich doch (ganz ohne Pathos) „Danke“ :)
Viele Grüsse,
Sarah
Hat dies auf Wunderwaldverlag rebloggt und kommentierte:
Weil der Reader endlich wieder geht und gleich wieder die Clue Writers aufpoppen – hier gleich der Reblog! Read & enjoy!
Liebe Bücherwäldler,
Mit viel Pathos bedankt sich Sarah von Clue Writing für den Reblog :)