Ich stöhnte und versuchte, den unflätigen Fluch zu unterdrücken, der mir auf den Lippen lag und um jeden Preis heraus zu wollen schien. „Verfluchte Sch…“ ich unterbrach mich und fügte schließlich halbherzig und grammatisch inkorrekt hinzu: „… Tag.“ Beinahe hätte ich selbst über mich gelacht, da in meinem Kopf der Wutausbruch wesentlich schlimmer und dreckiger und viel weniger unbeholfen geklungen hatte, genau wie bei einem Kind, das sich im letzten Augenblick schämte, etwas Wüstes auszusprechen, auch wenn es alleine war. Ich atmete scharf ein und war mir immer noch nicht sicher, ob ich lachen oder weinen sollte – also tat ich nichts von beidem.
Ich sah mich in der Voliere um, die an meinen Geräteschuppen angebaut war. Mein Papageienschwarm zwitscherte wie immer sehr laut (wenn man denn das noch zwitschern nennen wollte) und beobachtete mich, wie ich mit verbissenem Gesichtsausdruck auf meiner unfreiwilligen Sitzgelegenheit auf dem mit Vogelkot verschmierten Boden verharrte. Es war für einen Sommermorgen ziemlich kühl, was an dem umgebenden dichten Wald lag, aus dem der Duft nach Waldmeister und Harz strömte während erste Sonnenstrahlen durch das Blattwerkt auf die Lichtung fielen, auf der mein kleines Häuschen stand. Wieso hatte ich mich nur für ein Pseudo-Einsiedlerleben entscheiden, fragte ich mich im Moment genervt, denn mein Handy hatte hier draußen kein Empfang, was ich zwar meistens als angenehm empfand, mir jedoch heute zum Verhängnis geworden war. Ich musste es also aus eigener Kraft irgendwie zum Festnetztelefon im Haus oder meinem schlammverspritzten Pickup schaffen, um ins nächste Dorf zu kommen. Im Moment erschien mir das mehr als nur unmöglich, doch ich wusste, dass ich es schaffen musste.
Angefangen hatte alles gestern Abend, als ich auf dem Landbahnhof aus der Regionalbahn gestiegen war. Ich hatte einen, vielleicht zwei Schritte gemacht und war geradeswegs in einen auf dem Nachbargleis abgestellten Güterzug geknallt, der sonst nicht dort stand. Ich war ziemlich rasch nach Hause gefahren, weil ich von dem Aufprall üble Kopfschmerzen davongetragen hatte und hatte mich hingelegt. Heute Morgen war die Geschichte weitergegangen, als ich die Kaffeekanne auf der angeschalteten Herdplatte vergessen und damit nicht nur alle Kunststoffteile an ihr geschmolzen, sondern auch fast noch das Haus in Brand gesetzt hatte. Dann, als ich meinen verkokelt schmeckenden Kaffee endlich getrunken hatte, war mir beinahe die Hutablage meiner Garderobe auf den Kopf gefallen, weil sich eine Schraube zu viel gelöst hatte – immerhin hatte ich das Schlimmste abwenden können. Und schließlich war ich beim Füttern meiner Papageie, die im Sommer draußen sein durften, auf einem Stück Pappe in der Voliere ausgerutscht und hatte mir wohl ein Bein gebrochen.
Und nun saß ich da, auf dem Boden meiner kleinen Vogelkolonie, versuchte die Schmerzen zu unterdrücken, mich dazu zu überwinden aufzustehen und mich irgendwie zu meinem Telefon zu schleppen, während ich darüber nachdachte, was für ein Pechvogel ich war. „Ja, meine Lieben, so spielt das Leben“, erklärte ich meinen Papageien, die über mir saßen und mir fasziniert zuschauten, wie ich nichts tat. „Man ist zu blöd, sich auch nur eine Woche unverletzt durchs Leben zu schlagen und zieht in den Wald, weitab von allen Verkehrsunfällen und den meisten anderen Todesfallen, die einem in der Stadt auflauerten, nur um dann als Gerippe in einer Voliere zu enden.“ Ein gelangweiltes „Kraa“, war die einzige Antwort, welche mir der grüne Matschukin gab, Gregor neben ihm knabberte scheinbar desinteressiert an einem Sonnenblumenkern. „Na großartig, ihr seid Psychoanalytiker, keine Verhaltenstherapeuten“, murrte ich und versuchte die imaginäre Therapiesitzung weiterzuspielen, da ich mich so von den Schmerzen ablenken konnte. Doch spätestens als Isolde gelangweilt in die gegenüberliegende Ecke flog, gab ich auf und entscheid mich dazu, dass ich mich genauso gut endlich aufraffen konnte, denn irgendwann musste ich den schmerzhaften Weg ja hinter mich bringen. „Schräger Vogel“, murrte ich mit einem vorwurfsvollen Blick zu Isolde, bevor ich mit einem unterdrückten Stöhnen losrobbte. Es würde ein verdammt langer Weg werden.
Keuchend und mit kaltem Schweiß auf der Stirn saß ich auf dem Wohnzimmerboden neben den Telefontischchen und griff nach dem Handset meines Schnurlostelefons, nur um mit Schrecken festzustellen, dass es nicht auf der Basisstation stand. Dafür fiel mir eine Papiermaché-Plastik eines Vogels, die ich vor einigen Jahren gebastelt hatte, auf den Kopf und dann zu Boden. „Heilige Sch…“, begann ich, und wie immer beendete ich den Satz nach einer kurzen Pause, „… Schrecken.“ Wo konnte ich denn das vermaledeite Ding nur gelassen haben, fragte ich mich und sah mich in dem kleinen Raum um, jedoch erfolglos. Resigniert kramte ich in der Tasche meiner Jacke nach den Zigaretten (ich rauchte nur, wenn ich frustriert war, wenn etwas nicht gelang und diesen Glimmstängel hatte ich mir mehr als nur ein bisschen verdient). Meine Hand griff statt den Zigaretten nach dem Handset des Telefons und in dem Augenblick, in dem ich realisierte, dass ich die ganze Zeit über in der Voliere hätte telefonieren können, begann ich hysterisch zu lachen.
Ich entschied mich gleich den Krankenwagen zu rufen, lieber bezahlte ich dafür Geld als mir auf dem Weg ins Spital das Geschwafel meines einzigen in der Nähe wohnenden Nachbarn anzuhören, der für seinen Antisemitismus bekannt war und den ich insgeheim den Nazi-Siedler nannte. Da wusste ich noch nicht, dass ich mir noch bevor ich im Spital ankommen würde auch noch einen Arm brechen würde, weil der Krankenwagen vom Waldweg abkommen und in einem Graben landen würde. Wirklich nicht mein Tag.