Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Rebecca, bitte!“, flehte Cordelia ihre Vierjährige an, während sie sanft am Ärmel des hellgelben Regenmantels zerrte. Das Kind hatte sich in den letzten Wochen derart verändert, dass sie es kaum wiedererkannte – aus dem einst so braven Mädchen war ein Biest geworden, das an Sturheit bestenfalls von einem Maultier überboten wurde.
„Rebecca!“, versuchte sie es erneut. Ohne Erfolg, das Mädchen bewegte sich keinen Millimeter von ihrem Platz auf der Reling weg und streckte ihr sogar die Zunge heraus. Ächzend ließ sie ihre Finger über den beschichteten Stoff des Mantels herabgleiten und blieb kurz mit hängendem Kopf vor ihrer Tochter stehen, bevor sie sich neben sie setzte. Cordelia war nicht naiv, ihr war klar gewesen, ihr liebes Kind würde sich früher oder später gegen ihre mütterliche Fürsorge sträuben. Dennoch hatte sie nicht damit gerechnet, wie sehr ihr das alles zusetzte und das Schlimmste daran war, diese mühseligen Streitereien waren gerademal der Anfang. Mit dem Gefühl wachsender Überforderung dachte Cordelia an die kommenden Jahre, in denen sie zuerst mit einem frechen Kind, dann mit einem Teenager zusammenleben wird.
„Du wächst mit deinen Aufgaben“, flüsterte sich Cordelia die aufmunternden Worte zu, die ihre Mutter ihr mitgegeben hatte, „du wirst das Problem lösen, wenn es vor dir steht.“ Sie atmete tief durch, kniff die Augen zusammen und öffnete sie anschließend mit einem Schmunzeln auf den Lippen.
„Kennst du die Geschichte vom störrischen Oktopus?“, fragte sie Rebecca und stupste sie spielerisch an den Oberarm. Die Kleine schien skeptisch, vermutete wohl, die Story sei eine Taktik ihrer Mutter, sie dazu zu bringen, von der Reling zu klettern. Wie üblich, konnte sie die Neugier schlussendlich nicht unterdrücken. Zaghaft schüttelte sie den Kopf, bis ihre blonden Locken hin- und herwippten.
„Nun“, holte Cordelia in einem verschwörerischen Tonfall aus, „es gab einmal einen Oktopus, der sich von niemandem was sagen ließ und nur tat, was er gerade wollte.“ Selbstverständlich hatte die junge Mutter absolut keine Ahnung, wohin diese Geschichte führte, das hatte sie nie. In der Regel nahmen ihre Erzählungen einen völlig unschuldigen Anfang und wenn alles glatt ging, endeten sie mit einer passenden Pointe für die jeweilige Situation. Manchmal verzettelte sie sich und die Geschichten wurden in absurde Bahnen gelenkt. Bis zum heutigen Tag schämte Cordelia sich dafür, ihrer damals dreijährigen Tochter von Zombieliebe und Menschenfressern berichtet zu haben, damit die Kleine ihre Kuscheldecke waschen ließ.
„Der störrische Oktopus hatte einen gemütlichen Platz auf der Koralle und er wollte da einfach nicht weg. Nicht, um mit seinen Freunden zu spielen und auch nicht, um mit seiner Mutter spazieren zu gehen. Weißt du warum der störrische Oktopus nicht von seinem Platz weg wollte?“ Zuversichtlich nickte sie ihrem Kind zu und wartete geduldig auf eine Antwort. Der Sekundenzeiger auf Cordelias Uhr drehte zwei volle Runden, ehe sie aufgab und fortfuhr: „Ich glaube, der Oktopus hatte Angst, deswegen hat er einen seiner Arme genommen und sich mit einem dicken, fetten Tentakelknoten an der Koralle festgemacht. Ich weiß nicht, wovon der kleine Oktopus solche Angst hatte. Weißt du es?“
„Ich weiß nicht“, ließ Rebecca schüchtern verlauten und vergrub ihr Kinn in dem großen Schal, den sie heute früh aus der hintersten Ecke ihres Schrankes gekramt hatte.
„Wirklich nicht?“ Cordelia hatte einen Nerv getroffen und hatte nicht vor lockerzulassen. Plötzlich übermannte sie der Verdacht, dass Rebeccas Wandel vom aufgeschlossenen, fröhlichen Mädchen zum grimmigen Maulesel nicht bloß am Alter lag. Vielleicht klammerte sie sich an eine Illusion, aber irgendetwas, da war sie sich auf einmal sicher, war los und sie musste unbedingt herausfinden, was es war.
„Rebecca, Schätzchen, du weißt, du kannst mit mir über alles reden.“ Obwohl sie leise sprach, hatte die Kleine sie garantiert gehört, denn sie schielte über den Rand des Schals direkt in die Augen ihrer Mutter und verzog den Mund zu einer Schnute.
„Der Oktopus …“, begann das Kind, wandte sich um und zeigte mit ihrem kleinen Finger ins Wasser. „Er möchte nicht in die Stadt gehen, dorthin, wo viele Männer sind. Er will dort bleiben, wo es sicher ist.“
„Okay“, erwiderte Cordelia perplex. „Wie kommt der Oktopus auf die Idee, Männer seien gefährlich?“ Sie musste ein Seufzen unterdrücken, wollte ihrer Tochter nicht das Gefühl geben, sie nähme ihre Ängste nicht ernst. Egal wie sehr sie sich anstrengte, Cordelia fiel einfach kein Grund für Rebeccas Furcht ein, hatte sie ihr Kind doch stets behütet und gegen alles Schlimme beschützt.
„Mami, du weißt gar nichts!“, tönte es lautstark neben der Mutter. Langsam löste sich Cordelia von der Relingstange und warf einen besorgten Blick über den ungewöhnlich menschenleeren Hamburger Hafen. Sie wusste nicht so recht, ob sie nach Hilfe suchte oder schaute, dass niemand ihre Erziehungsschwierigkeiten mitbekam. Als alleinerziehende Mutter hatte sie es ohnehin schon schwer genug, da brauchte sie nicht auch noch von Passanten verurteilt werden, weil sie ihr Kind nicht von der Reling wegbekam.
„Meinst du, der kleine Oktopus könnte mir erklären, was so gefährlich ist?“ Die Sonne blendete sie und Cordelia lehnte sich neben ihrer Tochter an das Geländer. Allmählich kroch ein schrecklicher Gedanke hervor, breitete sich aus und ließ ihr Herz einige Takte schneller schlagen. Was, wenn Rebecca etwas Furchtbares widerfahren wäre, wenn all ihre Vorkehrungen nichts gebracht hätten und im Kindergarten irgendein Soziopath arbeitete, von dem sie nichts wusste? Behutsam legte sie ihre Hand auf Rebeccas schmale Schulter und hoffte, diese Geste brächte die Kleine zum Reden und befreie sie selbst von der unerträglichen Anspannung. Was auch geschehen war, sagte Cordelia zu sich, sie fände eine Lösung und würde Rebecca dabei helfen, es zu verarbeiten.
„Nina sagt immer fremde Männer schlitzen Kinder auf und machen ganz schlimme Dinge, deswegen will der Oktopus nicht zu Fremden gehen.“
„Hat jemand dem Oktopus etwas Schlimmes angetan?“ Sie schluckte, da verneinte Rebecca vehement, sah sie mit großen Augen an und Cordelia fiel ein Stein vom Herzen.
„Nein, Mami, aber Nina sagt, Männer kommen und nehmen Kinder mit und tun eklige Dinge mit ihnen.“ Rebecca war sichtlich aufgewühlt, auf ihrem Gesicht war eine Mischung aus blanker Panik und rechthaberischer Überzeugung zu erkennen, so wie damals, als sie Cordelia von den bösen Fischen im Hafen erzählt hatte. Erst war die Mutter erleichtert, nach einer Weile, kochte Wut in ihr hoch. Da hatte sie gedacht, sie hätte ihr Kind im besten Kindergarten der Stadt untergebracht und nun wurde ihr dort derartig unreflektierter Schwachsinn beigebracht, der sie verängstigte. Und das war nicht das erste Mal. Natürlich hatte sie mit Rebecca darüber gesprochen, hatte ihr genau erklärt, weswegen sie nicht mit Fremden mitgehen durfte, diese ständige Panikmache ging ihr allerdings entschieden zu weit. Irgendwann kommen wir an den Punkt, überlegte sie entnervt, an dem wir so paranoid sind, dass wir Kleinkinder bewaffnen und allen eine Plüschaxt in die Finger drücken, damit sie sich auf den paar Metern vom Auto in den Kindergarten gegen freilaufende Pädophile wehren können.
„Schätzchen“, holte Cordelia mit einem zaghaften Lächeln aus, „ich finde es schön, ist der Oktopus vorsichtig und geht nicht mit Fremden weg. Das ist ganz wichtig. Aber er soll auch wissen, dass es viele liebe Männer gibt, so wie Opa.“
„Opa, der Barde“, meinte Rebecca grinsend und drehte sich zu ihrer Mutter. „Opa ist nicht böse!“
Cordelia ging vor dem Mädchen in die Knie und drückte es fest, bevor sie ihr über die roten Wangen strich und mit Nachdruck sagte: „Nein, Opa ist nicht böse. Es gibt nur ganz wenige Menschen, die böse sind, trotzdem müssen wir immer vorsichtig sein. Doch …“, sie pausierte um ihre Tochter nochmal zu umarmen, sah sie liebevoll an und fügte hinzu: „Der Oktopus braucht keine Angst zu haben, wenn seine Mami bei ihm ist.“
Liebe Rahel,
Hach, so eine nichtkitschige Kitschgeschichte – Dankeschön!
Beide Daumen in die Zimmerdecke rammend und lieb grüssend,
Benjamin