„Das Leben ist kein Ponyhof, erst recht nicht hier!“, verkündete die Reitlehrerin lautstark, so dass sie auch von denjenigen noch gehört wurde, die am anderen Ende des Ponyhof-Geländes auf den Bus warteten und überhaupt nicht hören wollten, was die Gute zu sagen hatte. Deborah und Miria warfen sich schmunzelnde Blicke zu, wagten es jedoch nicht, auch nur einen Mucks von sich zu geben. Dumme Wortspiele schienen der Hofeigentümerin zu gefallen, immerhin hieß der verdammte Stall „Gutshof zum guten Gut“. Zu spaßen war mit ihr dennoch nie, oh nein! Die wichtigste Regel hier war, immer genau das zu tun, was Emanuelle von einem verlangte und das nicht irgendwie und schon gar nicht irgendwann, sondern stets und ohne Ausnahme exakt und sofort.
Ein wenig war der Reitunterricht so wie ein Militär-Camp und es war keineswegs leicht für zwei Dreizehnjährige, diesen harten Ton auszuhalten, doch wer aufs Pferd wollte, hatte zu verstehen, wie besagtes Pferd zu bedienen und zu umsorgen war, Punkt. „Fehler“, so begann Emanuelle jede ihrer Unterrichtsstunden, „sind nichts weiter als ein Zeichen von Faulheit und Nachlässigkeit. Und Faulheit und Nachlässigkeit“, so ihre weitere Erläuterung, „resultieren in nicht fachmännisch gehandhabter Pferdeführung!“ Das durfte auf gar keinen Fall passieren, denn wer sein Tier nicht fachmännisch zu handhaben wusste, riskierte Verletzungen an Pony und Reiter, was bei ungünstigem Ausgang in Versicherungsproblemen endete. Und wenn es eines gab, das jeder einzelne Reitschüler einzusehen hatte, war, dass Emanuelle sich nur äußerst ungern mit Versicherungsleuten unterhielt.
„Gut“, schloss die zähe kleine Frau mit Damenbart ihren Einstiegsmonolog ab. „Wissen alle, was zu tun ist?“ Die überschaubare Horde an Elf- bis Fünfzehnjährigen nickte simultan, genauso wie sie es gelernt hatten, denn Synchron-Nicken war eine der vielen Küren, durch deren Beherrschung sie sich einen Platz auf den Ausritten ergattern konnten. „Sicher? Unterwegs wird weder für Pinkelpausen, Naseschnäuzen noch für Frisurfehlfunktionen oder Anziehen warmer Kleidung angehalten. Wer auf dem Pferd sitzt, genießt keinerlei Narrenfreiheit! Verstanden?“
„Ja, Emanuelle!“, brüllte die Truppe in einstudierter Harmonie. Miria war die erste, die es wagte sich aus der Achtungsstellung zu rühren und zu den Ställen zu traben. Als Deborah zu ihr aufgeschlossen hatte, meinte sie ganz leise: „Was glaubst du, werden wir heute endlich ins Wasser dürfen?“
Miria überlegte eine Weile, schüttelte dann aber entschlossen den Kopf.
„Zu gefährlich, es hat zu viel geregnet“, gab Miria zu bedenken.
„Hm, stimmt. Ein Pferd könnte ausrutschen und sich die Fesseln brechen!“, fügte Deborah erschrocken an und wurde dann von einer weiteren Schreckensvorstellung Mirias übertroffen: „Oder jemand könnte abgeworfen werden und ertrinken!“
So war das immer, die beiden standen im ewigen Konkurrenzkampf gegeneinander. Eine Tatsache, die ihre Freundschaft vom Kindergarten her begleitet hatte und sie bis heute zu etwas ganz Besonderem machte. Wer brauchte schon liebe und nette Freundinnen, die einem gönnerhaft auf die Schulter klopften, wenn man eine Rivalin haben konnte, deren Ehrgeiz zu Höchstleistungen anspornte? Zumindest Miria war voll und ganz zufrieden mit dem vorherrschenden Wettbewerb zwischen den beiden und das lag nicht nur daran, dass sie in der Regel eine Nasenlänge weiter vorne lag, sondern eher daran, dass ihr diese Art von sozialer Interkation am besten lag. Deborah auf der anderen Seite war einfach bloß froh, dass sie in dieser rauen Umgebung jemanden gefunden hatte, der sich mit ihr abgab, normalerweise war sie nämlich eine Außenseiterin. Das konnte sie Miria selbstverständlich nicht anvertrauen, genauso wenig wie diese ihr sagen wollte, dass sie lieber sterben würde, als auch nur ein einziges Mal im Wettrennen um Emanuelles Anerkennung zu verlieren.
„Was hast du im Winter vor?“, erkundigte sich Deborah vorsichtig, in der leisen Hoffnung darauf, dass sie die Winterferien vielleicht mit Miria verbringen könnte, statt im Wohnzimmer ihrer Großmutter zu stricken und zuzusehen, wie diese mit ihrem Papagei über Politik diskutierte.
„Weiß noch nicht“, antwortete Miria gleichgültig, obwohl sie die Intention der Frage durchaus verstanden hatte. Es gab ihr ein gutes Gefühl zu wissen, dass die andere sich nach ihrer Gesellschaft sehnte, noch besser war es allerdings, sie noch etwas zappeln zu lassen und diese Macht auskosten zu können. „Vielleicht gehe ich mit meinem Bruder Skispringen“, meinte sie schließlich, wohl wissend, dass Deborah dabei niemals würde mitmachen können, sie war schlichtweg zu dick und unsportlich, um sich auf zwei Skiern halten zu können.
„Ach so, okay. Das könnte ich auch mal probieren“, sagte Deborah kleinlaut, ohne jedes Begehren, dieses Vorhaben je in die Tat umzusetzen.
„Nimm es mir nicht übel, Deborah“, holte Miria mit einem bösartigen Grinsen aus, „aber du bist schlichtweg zu dick und unsportlich dafür.“ Selbstverständlich hatte Miria das nicht aussprechen müssen. Deborah wusste, dass sie es dachte und Miria wusste, dass Deborah wusste, dass Miria das dachte, immerhin kannten sich die beiden schon lange. Miria verstand hingegen nicht, dass Deborah durchaus im Klaren darüber war, wie wichtig diese kleinen Gehässigkeiten für das Seelenwohl der anderen waren. Nun gut, jedenfalls redete sich Deborah das ein, ganz sicher konnte sie sich nie sein wenn es um Mirias Absichten ging, aber so ließ es sich zumindest einigermaßen ertragen.
„Schon klar“, murmelte Deborah dann, ehe sie sich umdrehte und die Boxentüre ihres Lieblingspferdes öffnete. Sandrigo war seit jeher ihr absolutes Traumpferd gewesen, nicht bloß weil der Wallach ein ungewöhnlich hohes Stockmaß und für einen Trakehner hatte und bei Dressurübungen als einziger eine korrekte Inklination biegen konnte. Nein, Deborahs Liebe zu dem störrischen Braunen kam daher, dass Miria es nie geschafft hatte, auch nur drei Minuten auf dem Tier sitzen zu bleiben und sogar Emanuelle ihre liebe Mühe damit hatte, Sandrigo unter Kontrolle zu halten. Alle im Stall nannten ihn „Bock“, weil sein unmögliches Wesen sie an den dummen Schafsbock des Nachbarhofs erinnerte, doch Deborah war sich sicher, dass da nur der blanke Neid aus ihnen sprach.
„Hast du schon wieder denselben?“, wollte Miria erfahren, währendem sie sich mit einer stolzen Umdrehung zur gegenüberliegenden Box hüpfte. Sie hatte für den heutigen Ausritt den Hengst bekommen, eine ganz besondere Ehre, die sie zu Recht mit erhobenem Kinn in Angriff nahm. Nur die besten Reitschüler durften den Hengst reiten, das war sozusagen der Ritterschlag des Ponyhofs. Die meisten spielten dabei mit, warfen jedem, der auf dem breiten Rücken des Zuchttiers saß, bewundernde Blicke zu und fanden sich damit ab, dass sie dem Reiter in allen Belangen unterlegen waren. Deborah war da etwas skeptischer, sie hatte das Tier schon häufiger von der Koppel geführt oder seine Box gemistet und wusste, dass der große Fuchs in Wahrheit ein liebes Kerlchen war, das man sogar mit einer rossigen Stute an dieselbe Kutsche spannen konnte, wenn man denn wollte.
„Ja, klar“, erwiderte Deborah schlussendlich und pustete ihrem Sandrigo zur Begrüßung in die Nüstern, ehe sie seinen Hals umarmte.
„Wie langweilig. Willst du nicht auch mal einen anderen haben?“, stichelte Miria, doch die andere ließ sich davon ausnahmsweise nicht aus der Ruhe bringen. Ihre Freundin konnte sagen, was auch immer sie wollte, wenn es um den Wallach ging, ließ sich Deborah die Stimmung nicht verderben.
„Ach was, das ist so wie bei dir mit Penne an Pesto-Sauce, die verleiden dir doch auch nie“, erklärte Deborah gelassen, während sie mit der Kardätsche liebevoll über die Flanken ihres Reittiers strich.
„Mag ja sein, aber willst du denn nicht auch mal eine Herausforderung? Ich bin mir sicher, wenn du fragst darfst du den Hengst auch mal reiten“, begann Miria mit gespielt gutmütiger Miene, ehe sie zum Hieb ansetzte und betont mitleidig hinzufügte: „Natürlich nur auf dem Paddock.“
Deborah ging nicht weiter auf die Provokation ein, denn sie hatte einen Plan für den heutigen Ausritt, auf den sie sich in Ruhe vorbereiten wollte. Wer in Emanuelles Ansehen aufsteigen wollte, darüber waren sich alle Reitschülerinnen einig, hatte sich nicht nur stets ordnungsgemäß zu verhalten und sich an die unzähligen Regeln des Ponyhofs zu halten, sondern musste ebenfalls einen Weg finden, auf sich aufmerksam zu machen. Genau daran war Deborah bis jetzt immer gescheitert, jedenfalls war das bisher immer ihre Erklärung dafür gewesen, dass sie bei allen positiven Entscheidungen übergangen worden war. Heute jedoch würde das ein Ende finden und Debora fest entschlossen aus dem Schatten ihrer Konkurrentin zu treten und allen zu zeigen, dass sie die einzig wahre Pferdeliebhaberin hier war, dass sie den Respekt und den Beifall aller Mädchen hier verdient hatte.
„Sag mal, Deborah, was trödelst du so lange herum? Wir müssen in drei Minuten auf dem Platz sein.“ Miria stand im Stallgang, dicht hinter ihr der Hengst, der faul seine Beine entlastete und den Kopf hängen ließ.
„Ich komme gleich. Geh ruhig schon mal vor“, tönte es aus Sandrigos Box. Miria konnte ihre Reitfreundin hinter dem mächtigen Tier kaum ausmachen, sah aber, dass sie an dessen Schweif herumzupfte.
„Nein, jetzt komm endlich!“, quengelte sie schließlich ungeduldig. Sie wollte sich Emanuelles Drill und den misstrauischen Blicken der anderen Reitschüler nicht ohne ihre Kameradin aussetzen, obwohl sie das natürlich niemals so zugegeben hätte. Doch Deborah ließ sich dieses Mal nicht erweichen und verweigerte der anderen ihren moralischen Rückhalt, gerade weil ihr durchaus bekannt war, dass Miria sich alleine nicht wohlfühlte, aber auch, weil sie für ihren großen Auftritt unbedingt alleine mit Emanuelle sein wollte.
„Stell dich nicht so an und geh ohne mich!“
Einige Minuten später öffnete Deborah die Boxentüre und führte Sandrigo auf den Vorplatz. Als sie Emanuelle entdeckte, die wütend auf die Stallungen zugerannt kam, setzte sie ihren linken Fuß in den Steigbügel und schwang sich mit einer einzigen fließenden Bewegung auf den Sattel. Keine Wand und kein zweiter Anlauf war nötig, um auf den ewig tänzelnden Wallach zu steigen, sondern lediglich eine einzige, durch und durch elegante Bewegung und schon saß Deborah fest im Sattel. Emanuelle blieb verdutzt stehen, legte den Kopf schief und schenkte Deborah dann ein kaum sichtbares aber definitiv existentes und ohne Zweifel anerkennendes Lächeln, ehe sie meinte: „Du bist zu spät!“
Sie hatte es geschafft, all das harte Training hatte sich ausgezahlt, dachte Deborah selbstbewusst, als sie Sandrigo auf zum Treffpunkt lenkte.