„Rufus“, hörte ich meine keuchende Stimme rufen und ich wusste, dass ein unbemerktes Lächeln über meine Lippen zuckte, als die Ohren des kleinen Beagles hochschnellten. „Nun komm schon“, sagte ich überflüssigerweise, denn mein treuer Gefährte hing schon an meinen Fersen, stets bereit mir mit Mut und der notwendigen Portion Dummheit überall hin zu folgen. Sein struppiges Fell war vom feinen Staub der dürren Büsche bedeckt, in denen er sich herumgetrieben hatte und er schnupperte aufgeweckt, immer auf der Suche nach etwas, das seine ungebändigte Neugier wecken würde.
Rechts, nur wenige Zentimeter neben meinen Füssen, prasselte Geröll den Steilhang hinunter und ließ mich unter der grellen Mittagssonne an Hagel denken. Auf der anderen Seite lag ein ebenso dramatischer Abhang, dessen fein aufgeschichtetes Schiefergestein meinen Schritten unnachgiebig standhielt und der angenehmen Brise den Weg zu meinem Gesicht leitete. Hier oben auf dem verwilderten Bergkamm, wo selbst im Hochsommer noch etwas Schnee überlebte, schien es mir, als würden all die irdischen Sorgen von mir abfallen, genauso wie die losen Brocken ins Tal hinunter rollen. Mein Atem ging schwer, meine Waden brannten und meine schulterlangen Haare klebten mir in verschwitzten Strähnen auf der Stirn. Erschöpft legte ich meinen Rucksack ab und setzte mich auf die unscheinbare Bergspitze, Rufus neben und das vergängliche Wolkenmeer unter mir. Es war still und friedlich hier oben, die Welt schien unberührt und frisch – ich fühlte mich frei.
Ich war über sechs Stunden marschiert, geklettert und getaumelt. Sechs Stunden, die sich gleichsam wie eine Ewigkeit und wie ein flüchtiger Moment angefühlt hatten und die mit stetigen Schritten angefüllt waren, welche mich schlussendlich an einen Ort gebracht hatten, der mir die lang ersehnte Ruhe schenkte. Hinter mir lagen Streit, Mühsal und der immerwährende Stress des Alltags, Situationen, die mich in den Wahnsinn zu treiben drohten und Menschen, deren Frustration ich nicht immer verstehen konnte, selbst dann nicht, wenn ich sie mit ihnen teilte.
Ich atmete tief durch, währendem Rufus glückselig auf dem gleichen Leckerli kaute, welches er nach den Besuchen beim Hundefriseur störrisch und beleidigt abzulehnen pflegte. Das Kreischen eines Adlers war von weither zu vernehmen und die dünne Luft schmeckte nach Eis und weihnächtlichen Schneeballschlachten mit meinem Bruder, der vor einigen Jahren seiner Heroinsucht erlegen war. Ich hatte ihn sehr bewundert, als ich noch ein kleines Mädchen gewesen war und ihn noch nicht für das, was er im Grunde war, erkannt hatte. Doch selbst nach all der Zeit zog ich es vor, ihn als Retter auf dem Schulhof und nicht als Versager im Leben in Erinnerung zu behalten, ihn in meinem Herzen für all seine kleinen Heldentaten zu feiern und über seinen Tod hinaus zu lieben.
Trotz all den Gründen, die darauf hindeuten, dass unerschütterlicher Optimismus an schieren Zynismus grenzte, hatte ich mich nie davon abhalten lassen, hartnäckig an ihm festzuhalten. Ein Unterfangen, welches sich zuweilen als äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich, herausstellte und mich irgendwann in die Arme meiner großen Liebe getrieben hatte: Pragmatismus.
Ja, ich war ein durchaus praktischer Mensch, der sich nur selten von Idealen oder ungreifbaren Träumen ablenken ließ und obwohl diese Einstellung nach Bitterkeit und Hoffnungslosigkeit zu schreien schien, verdankte ich ihr den Erhalt meiner Lebensfreude. Wenn schlechte Nachrichten vor meiner Tür standen, erlaubte ich es mir nicht, mich in Selbstmitleid zu suhlen oder meine Zeit damit zu vergeuden, einen Schuldigen zu finden, nein, ich begab mich schlicht und einfach auf die Suche nach einer Lösung. Diese simple Eigenschaft hatte mir gute Dienste geleistet und mich privat und beruflich zu einem Gipfelstürmer gemacht, der sich trotz der Hektik und Schinderei noch immer an Kleinigkeiten erfreuen konnte. Anstelle der Suizidpille, trug ich Freude in meiner Tasche und darauf war ich immer stolz gewesen.
Mein pelziger Freund winselte leise, als sich erneut etwas Schotter löste und mit lautem Getöse den Abhang hinunterrutschte und zog instinktiv meine Beine näher zu meinem Körper, um ihm mehr Platz zu gönnen. „Keine Angst“, flüsterte ich ihm zu und stellte zufrieden fest, dass sich seine Muskeln sofort entspannten. Eine Weile lang betrachtete ich meine schweren Wanderstiefel und zählte zum wiederholten Mal die Ösen, durch welche sich das rote Schuhband schlängelte. Ich mochte das Gefühl von Sicherheit in diesen Schuhen, darin zu laufen war etwas ganz anderes, als auf meinen hohen Pumps, die zu meiner Arbeitsuniform als Firmenleiterin gehörten. Genauso sehr genoss ich es, verschwitzt und ungekämmt durch die Einsamkeit der Berge zu streifen, anstelle davon, mich geschminkt und herausgeputzt zu präsentieren. Ginge es nach mir, würde ich jeden Tag mein Kostüm gegen ein Flanellhemd eintauschen. Doch die Kunden reagierten freundlicher auf mich, wenn ich eine Seidenbluse überzog und so war für mich die halbe Stunde, die ich jeden Morgen brauchte, um mich in diejenige zu verwandeln, die man in meinem Büro antraf, ein angemessener Aufwand für den höheren Lohn und ein Zeichen für nachhaltigen Pragmatismus.
Die Mittagssonne wanderte stetig weiter, bis sie schließlich zur Nachmittagssonne wurde und mich dazu aufforderte, langsam meinen Heimweg anzutreten. Rufus sprang in heller Erwartung eines neuerlichen Abenteuers auf, als ich meine Sachen zusammenpackte und mit dem gemächlichen Abstieg begann. Ich nahm mir vor, sobald ich zurück im Tal war und im Auto saß, meine Chinesisch-Vokabeln zu wiederholen, doch für jetzt ließ ich meine Gedanken zusammenhangslos fliegen, so wie sie das auf diesen Wanderungen immer taten. Während die dünne Schneeschicht unter meinen Sohlen knirschte, mein geliebter Beagle vor mir hertrabte und der Wind langsam anzog, stimmte ich das Lied an, welches mir mein Bruder als Kind beigebracht hatte – ich fühlte mich frei.
In Dublin’s fair city,
Where the Girls are so pretty,
I first set my eyes,
On sweet Molly Malone,
As she wheeled her wheel barrow,
Through the streets broad and narrow,
Crying cockles and mussels,
Alive alive O!
(Molly Malone, James Yorkston)