Der Lastkarren ließ sich nur schwer durch die schmalen Gänge manövrieren und verkeilte sich zuweilen zwischen den Unebenheiten des ausgemeisselten Bodens, so dass er ihn immer wieder freiruckeln musste, um vorwärts zu kommen. Quintus‘ Laterne beleuchtete das feuchtnasse Gewölbe gerade genug, damit er seine nächsten Schritte erahnen konnte, doch im Laufe der Zeit war die unterirdische Begräbnisstätte zu einem Labyrinth angewachsen, so dass es ihm beinahe unmöglich schien, den richtigen Weg einzuschlagen. Ein fahl schmeckender Tropfen löste sich vom Gewölbe und vermischte sich mit dem Schweiß auf seiner Oberlippe. Gequält ächzend stellte er den hölzernen Karren ab und wischte sich mit seinem verschmutzten Ärmel über die pechschwarzen Brauen, legte dann den Kopf in den Nacken und flüsterte: „Oh Lucius, warum nur?“ Nur zu gerne hätte sich Quintus eine kurze Pause gegönnt, doch es blieb ihm nicht mehr viel Zeit. Bald schon würden die Totengräber ihre tägliche Pflicht erfüllen und durch die erdrückend düsteren Hallen der Katakombe hetzten, also setzte er seinen Lastkarren mit einem beherzten Ruck in Bewegung.
Es war Hostilia gewesen, die am Ende einer langen Nacht als erste den Mut aufgebracht hatte, den Plan vorzuschlagen. Vielleicht, so dachte er sich im Nachhinein, hätte er ein erschrockenes Gesicht aufsetzen sollen, als sie kleinlaut ihre Idee mit ihm geteilt hatte, doch es wäre ihm ohnehin nicht gelungen, sie hinters Licht zu führen. Der Tag, an dem er Lucius‘ dunkles Geheimnis erfahren hatte, war jener gewesen, an welchem er zum ersten Mal daran gedacht hatte, sich seines Freundes zu entledigen und selbst wenn er es nie ausgesprochen hatte, hatte Hostilia es mit Sicherheit geahnt. Die Notwendigkeit Lucius loszuwerden zu verneinen, wäre ein fruchtloses Unterfangen gewesen, also hatte er lediglich sein Haupt für einen Augenblick gesenkt und ihren Vorschlag ohne Pathos angenommen und danach wortlos den Sauerrahm vom Boden seiner Schüssel geleckt.
Ein weiterer Knochen verschwand in einer der überfüllten Nischen und würde dort hoffentlich nie gefunden werden. Quintus trabte zurück zum Wagen und packte einen der Schädel, der so klein war, dass er beinahe in seiner Pranke verschwand. Eine Weile betrachtete er das Kind im Schein der Öllaterne und es war ihm, als würden ihn aus den leeren Höhlen zwei Augen anblitzen, die in ihrem kurzen Leben vermutlich mehr Schmerz gesehen hatten, als ein Gladiator im Ruhestand. Flüsternd beteuerte er seine Reue, küsste den Schädel wehmütig auf die Stirn und legte ihn dann in seine anonyme Ruhestätte. Quintus‘ Lippen waren zu einem dünnen Strich verzogen und er ließ seine kräftigen Schultern hängen wie ein Bub, der gerade eben getadelt worden war und sich schuldig fühlte. Natürlich war nicht er es gewesen, der diese Gräueltaten begangen hatte, doch er hatte davon gewusst, hatte er doch eines Abends, nach Wein und Speise, die Kammer unter Lucius‘ Gemächern entdeckt. Doch er hatte geschwiegen, nicht einmal seiner geliebten Hostilia davon erzählt, weil er um seine Stellung, nein, um seine Freiheit gefürchtet hatte.
Lucius war sein engster Freund und hatte ihn, nachdem er zur rechten Hand des Generals geworden war, vom Söldnerdasein befreit und ihm eine komfortable Stelle in den Zeltstädten vor den Stadtmauern angeboten. Mit etwas harter Arbeit und Eifer, war es Quintus in nur drei Jahren gelungen, zum Ausbildner aufzusteigen. Und während er früher auf den Schlachtfeldern fern der Heimat im Hafengebiet des Nils gestanden war und als einer von Tausenden für das Reich gekämpft hatte, so brauchte er heute nichts anderes zu tun, als junge Legionäre im Kontaktsport auszubilden. Dank Lucius‘ Zutun erhielt er nicht nur mehr Sold, sondern genoss auch das Privileg, sich in Sicherheit zu wissen und jeden Abend zu seiner Hostilia zurückzukehren.
Hätte er Lucius rechtzeitig aufgehalten, wäre die Rückkehr auf das Schlachtfeld die geringste Strafe gewesen, die er zu fürchten gehabt hätte. Vermutlich hätte man ihn eingekerkert und des Verrats beschuldigt, ihn womöglich sogar hingerichtet. Doch nun, als er die Gebeine der armen Kinder in den Irrgängen der überfüllten Katakomben verstreute, wünschte er sich, er hätte sein Leben dafür gegeben, sie zu retten.
Der Schein seiner Lampe wurde immer schwacher und bald schon blieb in seinem Karren nur noch ein Gerippe zurück, dessen er sich zu entledigen hatte. Es war grösser als die anderen und wies trotz seiner Vergangenheit als Soldat weniger Brüche auf, als diejenigen der verschwundenen Kinder. Lucius hatte nicht eines der Jungen und Mädchen unversehrt gelassen, hatte ihre letzten Tage in unvorstellbare und allgegenwärtige Pein verwandelt und ihnen keine Gnade zukommen lassen, so dass ihnen nichts anderes übrig geblieben war, als auf den Tod zu warten, der ihnen oft erst spät Erlösung geschenkt hatte.
Quintus zögerte kurz, bevor er den langen Oberschenkelknochen, welcher wie eine Zielvorrichtung über den Karren hinausgelugt hatte in eine der Felsnischen steckte, in denen die Überreste von Bettler und Hingerichteten lieblos entsorgt wurden. „Oh Lucius“, stieß Quintus seufzend aus, als er den Schädel seines einstmaligen Gefährten aufhob. Im flackernden Licht wirkte das Weiß beinahe orange und dort wo Hostilia das Fleisch nach dem Kochen abgeschabt hatte, waren kleine Kerben zu erkennen. Er hätte es nicht tun können, gestand sich Quintus nur widerwillig ein und war froh, dass seine Geliebte ihm diese Schande nicht übel genommen hatte.
„Oh Lucius“, wiederholte er und vergoss eine Träne für den Kindsmörder, dessen Aufgabe es gewesen war, die verschwundenen Söhne und Töchter zu finden und dessen Ende zu einer früheren Zeit hätte herbeigeführt werden müssen. „Warum nur, Lucius? Wieso hast du uns nur vor dieses grausame Konundrum gestellt?“ Die Träne perlte von seinen Bartstoppeln und versickerte im porösen Gestein zu seinen Füssen. Quintus sah zu wie sie verschwand und zerschlug das Antlitz des Peinigers mit einer Wut, die ihn nie wieder verlassen würde. „Du hättest sie beschützen sollen!“