Als Michael erwachte, ging es ihm echt schlecht: Er hatte Kopfschmerzen und ihm war übel. Stöhnend öffnete er die Augen, nur um sie ganz schnell wieder zu schließen. Das Licht war viel zu hell, einfach nicht auszuhalten. Warum ging es ihm nur so mies? Egal, Helga musste ihm erst mal etwas gegen die höllischen Kopfschmerzen geben, dann würde man weitersehen können. Merkte sie nicht wie schlecht es ihm ging? Schlief sie so fest oder war sie schon aufgestanden? Seine linke Hand tastete nach seiner Frau und der Schreck fuhr ihm in alle Glieder. Da war nichts. Nicht nur seine Frau war nicht da, das Bett war einfach zu Ende, seine Finger glitten ins Leere. Er lag eindeutig nicht in seinem Bett. Erschrocken riss er die Augen auf, um sie gleich wieder zuzukneifen. Nein, so ging das nicht. Was war nur los? Wo war er? Ganz vorsichtig blinzelte er mit halb geschlossenen Lidern in das viel zu helle Licht. Weiße Wände, ein Fenster mit einem sehr dünnen Vorhang. Er lag in einem unbequemen Einzelbett. Langsam dämmerte es ihm: er befand sich in einer Klinik. Aber warum? Was war passiert? Ängstlich machte er eine Bestandsaufnahme seines Körpers. Arme und Beine waren unverletzt, einen Verband konnte er nicht entdecken. Abgesehen davon, dass ihm übel war und sein Kopf schmerzte, schien alles in Ordnung zu sein. Was war bloß mit ihm passiert?
Die Tür öffnete sich und ein Arzt betrat den Raum. „Guten Morgen, Herr Kaltenstein. Wieder aufgewacht? Wie fühlen Sie sich?“, erkundigte sich der Herr im weißen Kittel.
„Was fehlt mir, Herr Doktor? Warum liege ich hier? Wie lange bin ich überhaupt schon hier?“, sprudelte Michael los.
„Nun mal immer mit der Ruhe, Herr Kaltenstein. Tja, das ist eine merkwürdige Sache mit Ihnen. Erinnern Sie sich denn gar nicht mehr an den gestrigen Abend?“, wollte der Arzt wissen.
Michael schloss grübelnd die Augen: Gestern Abend, hm, ja, da war doch die Betriebsfeier in seinem Unternehmen gewesen. Schöne Feier, gute Stimmung. Er, als Geschäftsführer des Elektronikdiscounters, hatte die übliche Rede gehalten. Dann war man zum gemütlichen Teil übergegangen. Er war von Grüppchen zu Grüppchen gewandert, hatte mit den Mitarbeitern gescherzt und hier und da auf das gute Geschäftsergebnis angestoßen. Dann hatte er mit Frau Klüntjes aus der Musikabteilung geflirtet. Endlich schien er mal auf sie Eindruck zu gemacht zu haben. Seit einem halben Jahr hatte er schon versucht bei ihr zu landen. Gestern Abend hatte er endlich Erfolg gehabt. Offensichtlich hatte sie endlich eingesehen, dass man sich besser gut mit ihm stellt. Dass Wernicke an ihrer Stelle Abteilungsleiter geworden war, hatte sie wohl doch getroffen. Jedenfalls hatte sie mit ihm geflirtet und dann waren sie zusammen aufgebrochen, wollten zu Frau Klüntjes‘ Wohnung. Er fuhr ihr hinterher. In ihrer Wohnung hatten sie dann erst mal einen Martini getrunken. Er trank eigentlich keinen Martini, viel zu süß für seinen Geschmack, eben ein typisches Weibergetränk. Aber er wollte nicht unhöflich sein und die gute Stimmung ruinieren. Und dann …
„Ja also, Herr Kaltenstein“, unterbrach der Arzt da seine Überlegungen. „Sie wurden gestern Abend mit Verdacht auf einen Herzinfarkt eingeliefert.“
Sollte er etwa einen Herzinfarkt bekommen haben, während er mit Frau Klüntjes … Bei dieser Vorstellung nahm sein Gesicht die Farbe einer reifen Aubergine an.
„Kein Grund zur Aufregung, Herr Kaltenstein. Sie hatten keinen Herzinfarkt“, redete der Arzt beruhigend auf ihn ein. „Dass mit ihrem Herzen alles so weit in Ordnung war, haben wir recht schnell feststellen können. Allerdings war ihr Zustand schon besorgniserregend. Da hat ihre Mitarbeiterin ganz richtig gehandelt, Sie herzubringen.“
Also was war verdammt noch mal passiert, versuchte Michael verzweifelt sich zu erinnern. Sie hatten den Martini getrunken, sich zugeprostet, gescherzt und dann … Filmriss. An mehr konnte Michael sich einfach nicht erinnern. „Tja, also da Sie von einer Betriebsfeier kamen, dann auf der Fahrt hierher wohl auch mal bewusstlos gewesen waren und sehr verwirrt wirkten, haben wir erst mal einen Alkoholtest gemacht“, setzte der Arzt sein Erklärung fort. „So extrem viel hatten Sie aber wohl doch nicht getrunken. Wir werden Sie zur Sicherheit noch ein oder zwei Tage hier behalten und unsere Neurologen werden Sie gründlich durchchecken.“
Während dessen saß Maike Klüntjes mit ihrer Freundin Inge in ihrer Wohnung und ließ die Ereignisse des vergangenen Abends Revue passieren. „Ich hätte nicht gedacht, dass es so einfach sein würde Kaltenstein zu mir in die Wohnung zu lotsen. Schließlich bin ich ihm das letzte halbe Jahr ständig aus dem Weg gegangen und habe nie auf seine Anmache reagiert. Außerdem war ich sauer, weil er Herrn Wernicke zum Abteilungsleiter berufen hat. Ich hatte fest damit gerechnet den Job zu bekommen, wenn Herr Notteboom in Rente geht. Das haben alle in der Abteilung gewusst und ich habe aus meinem Ärger auch keinen Hehl gemacht. Da hätte Hartenstein doch stutzig werden müssen, wenn ich plötzlich so an ihm interessiert bin“, sinnierte Maike. „Der doch nicht“, erwiderte Inge. „In seiner Selbstverliebtheit kann der sich doch gar nicht vorstellen, dass irgendeine Frau nicht von ihm begeistert ist. Das hatte Helga schon vollkommen richtig vorausgesehen.“ Inge erhob sich aus dem Sessel, in dem sie sich zusammengerollt hatte, nahm die Prosecco-Flasche vom Tisch, öffnete sie und schenkte zwei Gläser ein. Eines davon gab sie Maike, die auf dem Sofa lag. „Komm, lass uns auf die gelungene Aktion anstoßen. Wer hätte das vor drei Monaten gedacht, als wir das erste Mal zu Helga gingen? Wir wollten Frau Kaltenstein die Augen öffnen und die war längst im Bilde“, erinnerte sich Inge, während sie zu dem Sessel zurückkehrte. „Erzählte uns, dass du nicht die erste gewesen warst, bei der er es versucht hatte, auch mit sehr unfairen Mitteln“, fuhr Inge fort. Maike stand von dem Sofa auf und fing an im Zimmer auf und ab zu wandern.
„Stell dir mal vor, du wärst mit so einem 20 Jahre verheiratet. Immer wieder zu viel Alkohol und dauernd Frauengeschichten. Kein Wunder, dass Helga mittlerweile so abgebrüht ist. Aber trotzdem hatte mich ihr Vorschlag überrascht. Schon eine echt krasse Idee, uns Geld anzubieten, damit wir ihn mit K.-o.-Tropfen außer Gefecht setzen und dann in die Klinik bringen“, meinte Maike. Sie blieb vor dem Fenster stehen und sah nachdenklich hinaus.
„Puh, ich hatte echt Angst, dass wir den Dicken nicht bis ins Auto bekommen, bevor er endgültig wegtritt. Ich hatte wirklich nicht damit gerechnet, dass die K.-o.-Tropfen so schnell wirken“, fuhr sie fort. „Deine Vorstellung in der Klinik – so als besorgte Mitarbeiterin – war einfach Spitze“, lachte Inge. „Helfen Sie uns!“ äffte Inge Maike nach, „Mein Chef stirbt. Ich wollte ihn nach Hause fahren, weil ihm auf der Betriebsfeier schlecht geworden war. Unterwegs habe ich dann noch meine Freundin zufällig gesehen und eingeladen. Und plötzlich bricht Herr Kaltenstein zusammen, ist nicht mehr ansprechbar. Oh Gott, er hat bestimmt einen Herzinfarkt.“ Die beiden Frauen grinsten sich an. „Na hoffentlich kommt das dicke Ende nicht noch, wenn er wieder klar denken kann“, grübelte Maike. „Was will er denn machen?“ fragte Inge, „Klar, wenn er aus der Klinik kommt und wieder ins Büro geht, findet er deine Kündigung und deinen Urlaubsantrag. Da wird ihm schon was dämmern. Aber der wird mit der Geschichte bestimmt nicht hausieren gehen. Glaubst du wirklich, so ein Macho gibt zu, dass er von einer Frau ausgetrickst und auf die Matte geschickt worden ist? Wir fahren jetzt erst mal mit Helgas Geld in die Toskana in Urlaub. Wenn wir in zwei Wochen zurückkommen, fängst du deinen neuen Job an. Und für den Notfall haben wir ja auch noch ein paar hübsche Bilder von deinem Herrn Geschäftsführer“, antwortete Inge.
Michael lag in seinem Bett in der Klinik und versuchte verzweifelt sich zu erinnern. Die Tür wurde geöffnet und seine Frau Helga kam herein. „So hältst du also dein Versprechen – kein übermäßiger Alkoholkonsum und keine Weibergeschichten mehr“, begrüßte sie ihn. „Ich war nicht betrunken, frag den Arzt“, konterte der ertappte Sünder. „Mir wurde schlecht und Frau Klüntjes hat mich vernünftigerweise in die Klinik gebracht.“ Helga schüttelte nur den Kopf. „Lieber Michael, wer soll dir den Unsinn denn glauben? Wenn dir wirklich auf der Betriebsfeier schlecht geworden wäre, hättest du mich hin zitiert und sicher nicht vor deinen Angestellten zugegeben, dass der große Kaltenstein auch nur ein Mensch ist. Also wie bist du in diesem Zustand in den Wagen dieser Frau gekommen?“
„Ich weiß es doch nicht“, jammerte Michael. „Musst du mir unbedingt hier in der Klinik eine Szene machen?“
Seine Frau betrachtete ihn wie ein besonders widerliches Insekt. „Oh, keine Angst lieber Michael“, säuselte sie. „Ich mache dir keine Szene, weder hier noch woanders. Sobald du aus der Klinik entlassen wirst, fahre ich dich als treusorgende Ehefrau nach Hause. Allerdings bin ich heute Morgen schon in ein Hotel gezogen. Den Rest kannst du dann mit meinem Anwalt besprechen.“
Hallo Ann-Bettina,
ich bin beeindruckt, was Du alles machst. Die Kurzgeschichte ist gut. Hast Du mal daran gedacht, ein Buch mit Kurzgeschichten zu machen oder einen Roman zu schreiben?
Viele Grüße
Claudia
Hallo Claudia,
vielen Dank, dieses Lob freut mich natürlich riesig. Wer hat schließlich noch nicht daran gedacht, mal ein Buch zu schreiben? :-) Ich schon – aber bisher ist es halt bei dem daran denken geblieben. Aber was nicht ist, kann ja noch werden :-)
Viele Grüße
Ann-Bettina
Hallo Rahel und Sarah,
vielen Dank für euren Anstoß zu dieser Geschichte, die sonst nicht entstanden wäre. Das Schreiben hat mir viel Spaß gemacht. Jetzt hoffe ich natürlich, dass die Leser auch ihren Spaß haben.
Viele Grüße
Ann-Bettina
Hallo Ann-Bettina,
Wir freueun uns natürlich auch sehr, dass deine Gaststory bei uns erschienen ist. Es ist immer wieder spannend zu sehen, was andere Schreiberlinge aus Settings und Clues basteln, das bringt auch Abwechslung auf den Blog :)
Liebe Grüsse,
Deine Clue Writer