Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Heiko, du Vollidiot, wo zum Teufel steckst du?“ Lisa hätte nicht wütender klingen können und der Angeschriene rollte genervt mit den Augen, bevor er den Anruf kommentarlos unterbrach, sein Telefon vorsorglich ausschaltete und es in der Brusttasche seines Skianzugs verstaute. Er hing nun seit gut anderthalb Stunden wartend über einem kleinen Waldstück und klammerte sich mit seinen behandschuhten Fingern an die Sicherheitsstange des Sessellifts, währendem er ungeschickt versuchte, den immer aufdringlicher werdenden Fragen seiner fremden Sitznachbarin zu entkommen. Die Frau war bestimmt doppelt so alt wie er, was sie aber nicht davon abhielt heftig mit ihm zu flirten und ihn damit soweit in den Wahnsinn zu treiben, dass er sogar freiwillig seiner Freundin angerufen hatte und das obwohl er mit ihrer ungehaltenen Reaktion auf sein Fernbleiben der familiären Osterfeierlichkeiten hatte rechnen müssen. Gerade als Ina, die brünstige Hausfrau, anfing pseudo-subtile Seitenhiebe gegen seine Freundin auszuteilen (wahrscheinlich in der Hoffnung, er würde dann doch endlich erkennen wie kompliziert und aufwändig das Leben mit einem jungen, unreifen Mädchen ist), wurde er von einem lauten Krach aus seinen Mordphantasien aufgeschreckt, dem ein langgezogenes, donnerndes Grollen folgte. „Was war das?“, fragte Ina irritiert und hielt es für eine gute Idee nach Heikos Hand zu greifen, welcher diese sofort erschrocken zurückzog und in der Seitentasche seiner neuen Hightechjacke versteckte, bevor er gelassen antwortete: „Wahrscheinlich eine routinemäßige Sprengung.“ Er seufzte absichtlich laut, so dass seine lästige Nachbarin seinen Unmut mitbekam und erklärte weiter, dass dies eine übliche Praxis sei und gelegentlich kleinere Detonationen ausgelöst werden, um instabile Schneebretter kontrolliert abgehen zu lassen, bevor eine gefährliche Lawine über die Pistenhänge fegt. Ina nickte fasziniert und wollte gerade ihren Mund öffnen, um eine weitere Sinnlosigkeit von sich zu geben, als sie von einem spitzen Schrei unterbrochen wurde.
Plötzlich raste unter ihnen eine kleine Gruppe Skifahrer durch das bewaldete Gebiet und obwohl sie offensichtlich große Mühe damit hatten, sich durch die schmale Baumschneise zu schlängeln, bremsten sie nicht ab, sondern beschleunigten ihre Fahrt mit aller Kraft. Heiko zuckte zusammen, als einer der jungen Männer heftig mit einem tief hängenden Ast kollidierte und er wäre beinahe aus dem Sessellift gefallen, weil er sich instinktiv vorbeugte und seinen Arm hilfsbereit nach dem Verunfallten ausstreckte. Er konnte das wirre Durcheinander der aufgeschreckten Touristen auf den anderen Sesseln hören und als Ina den davonfahrenden Skifahrern empört nachrief, war ihm die Dame zum ersten Mal sympathisch. Sein Telefon ließ ein gedämpftes Fiepen ertönen, als er die Tastenkombination für Notrufe eingab und er biss sich heftig auf die Unterlippe, doch bevor er mit überschlagener Stimme schreien konnte: „Wie geht die Nummer der Bergrettung?“, sah er eine weitere, wesentlich grössere Gruppe Wintersportler, die wie ein bunter Schwarm Pinguine den Berg hinunter auf die schmale Waldschneise zu rutschte.
Während bis jetzt alle eher fassungslos waren, kehrte nun laute Aufregung ein; alle riefen sie von ihrer schwebenden Position auf den Sesseln nach unten, doch Heiko verstummte und starrte bestürzt auf das, was unter ihnen geschah. Zwei weitere Fahrer prallten ungebremst ineinander, während weiter oben ein junges Mädchen, welches eine pastellfarbene Hose trug, mit einem dumpfen Geräusch direkt in einen Baum fuhr, hintenüber kippte und regungslos liegen blieb. „Nein, nein, nein!“ Ina hatte ihr Gesicht in die Hände vergraben und wippte apathisch vor und zurück, so dass ihr Sessellift leicht ins Schwanken geriet und der hässliche Fuchsschwanz, den sie über ihrem Schal getragen hatte, leicht wie eine Feder nach unten fiel und auf einem der Verunfallten liegen blieb. Heiko betrachtete, wie sich das helle Fell langsam rot verfärbte und wusste sofort, dass dieser Mann sich wohl niemals von dieser Schädelverletzung erholen würde. Irgendwo hinter ihm hörte er einen seiner Sesselfreunde rufen, er habe die Bergrettung verständigt und so lockerte er seinen festen Griff um das Telefon.
Unter ihnen bot sich ein groteskes Bild des Schreckens. Mehrere bunt gekleidete Menschen lagen teilweise aufeinander, planlos verstreut oder sogar um die zarten Winterbäume gewickelt auf dem kalten Boden; die typischen Signalfarben ihrer Kleidung und das hellrote Blut, welches durch dicke Wollmützen sickerte, hob sich krass vom grellen Weiß des Schnees ab und erinnerte Heiko an eine Schüssel voller Zuckerostereier. Endlich aus seiner Starre erwacht, versuchte er das ganze Ausmaß des Desasters zu erkennen, reckte seinen Hals soweit er konnte nach hinten und sah, dass der ganze erkennbare Streckenabschnitt dasselbe zeigte. Vermutlich würde es weiter unten etwas besser werden, da es schwierig wäre durch die vielen Verletzten hindurch nach unten zu kommen, ohne selbst zu stürzen. Durch die Ski- und Snowboardanzüge war es schwierig, den Zustand der Unfallopfer zu erkennen, doch viele von ihnen lagen mit unnatürlich abgewinkelten Gliedmaßen im Schnee, einige regungslos, andere zuckend, sich windend und die, welche noch dazu fähig waren, versuchten sich unter Schmerzen in Sicherheit zu ziehen. Schädelfrakturen, ausgekugelte Gelenke, verrissene Bänder, zertrümmerte Knochen und innere Blutungen, verdeckt von der fröhlichen Regenbogenvielfalt der Freizeitbekleidung.
Ina kam wieder in Bewegung und wollte sich vom Sicherheitsbügel des Sessellifts befreien und entlockte Heiko ein ungläubiges Quicken, als sie verkündete: „Ich gehe runter, ich muss helfen!“ Im letzten Moment, kurz bevor sie beherzt absprang, konnte er sie zurückhalten und sie, vom Schock schwer atmend, davon überzeugen, dass eine weitere Verletzte niemandem helfen würde. Abwesend nahm er die weinende Frau in den Arm, schloss die Augen und lauschte dem dröhnenden Stimmengewirr. Schmerzensschreie, verzweifeltes Heulen, panisches Rufen und leises Schluchzen vermischte sich und tauchte das kleine Waldstück in ein surreales, beinahe pulsierendes Brummen, beinahe so, als würde die Winterwelt im Todeskampf ein letztes Mal ächzen und stöhnen.
Plötzlich wurde er von Ina heftig durchgeschüttelt. Sie saß mit offenem Mund und aufgerissenen Augen aufrecht und stocksteif neben ihm und zeigte mit ihrer in schwarzes Neopren gehüllter Hand in Richtung der über ihnen liegenden Mittelstation, neben welcher just in dem Moment der Grund für die Panik unter ihnen vorbeifuhr. Heiko verfluchte sich dafür, dass er sein Handy achtlos ausgeschaltet hatte, denn die Zeit würde jetzt nicht mehr reichen und er hätte sich so gerne von seiner Mutter verabschiedet. „Ina?“, fragte er verwirrt, kurz bevor die Frau sich schützend vor ihn drängte und er etwas Warmes in seinem Schoß fühlen konnte, nicht sicher, ob es ihr Blut oder sein Urin war. „Stell dich tot.“, flüsterte sie ihm zu und ihr Lächeln beruhigte ihn, währendem die Amokläufer das Massaker unter ihnen zu Ende brachten.
Gruselige Ostereier. Der neue Trend? Oder einfach ob der familiären Osterfeierlichkeiten?
BTW, Lina oder Ina?
Werter Clue Reader,
Nun ja, die obligatorischen familiären Osterfeierlichkeiten sollen ja bisweilen nervenaufreibend verlaufen und so Manchen an den Rand der Verzweiflung getrieben haben. Eine mörderische Abfahrt scheint dann aber doch eine etwas übertriebene Reaktion auf verlorene Eier zu sein.
Besten Dank für den Hinweis. Die Lina wurde nun zur Ina gemacht und ich schäme mich offiziell, dass ich diesen Verwechsler nicht nur einmal, sondern gleich mehrmals verbrochen habe. Wenn schon inkonsequent, dann aber wenigstens mit Konsequenz!
Rahel