Bereits in den frühen Morgenstunden wurde die Tür zu unserem Zimmer aufgerissen und die Frau im weißen Kittel kam herein. “Kontrolle!”, rief sie ungeachtet dessen, dass wir bis eben noch geschlafen hatten. Doch wir wurden jeden Morgen so geweckt. Inzwischen fragte ich mich, ob ich mich wohl je daran gewöhnen werde. Irina schreckte hoch und rieb sich die Augen. Ich hingegen war schon wach. Ich befand mich in diesem Unruhezustand, der mein Innenleben schon so lange verzehrte. Die Frau nahm ihren Rotstift und strich unsere Namen von der Liste. Dann ging sie weiter. “Guten Morgen”, murmelte meine Zimmergenossin und ich erwiderte ihren Gruß. Manchmal kam mir dieser Alltag hier wie eine Endlosschleife vor, wobei ich vor allem auf die Nächte liebend gern verzichten würde. Denn sie sind es, in denen er mich heimsucht und tyrannisiert. Der Mann aus meinen Träumen. Der Kerl, mit den pechschwarzen Schwingen auf den Rücken, wegen dem ich hier im Sanatorium gelandet bin. Unbändige Furcht ruht in mir, doch niemand schenkt meinen Worten Glauben. Ich möchte zurück, nach Moskau, nach Hause. Langsam bereue ich es, dass ich überhaupt den Mund aufgemacht hatte, doch ich hatte sie doch alle bloß warnen wollen. Was konnte daran schon verwerflich sein? Irina knisterte mit irgendetwas und riss mich damit aus meinen Gedanken. “Möchtest du auch eins, Tatjana?”, fragte sie mich und hielt mir eine Tüte Gummibärchen hin.
Ich verneinte und gleich darauf wurden wir in den Flur zitiert, um anschließend in Zweierreihen in die Kantine zu gehen. Ich holte mir meine Pillen ab. Sie waren andersfarbig als sonst. Bestimmt Beruhigungstabletten. Die Frau an der Ausgabe wollte, dass ich sie sofort schluckte, damit sie es sehen kann. Ich sollte sogar meine Zunge anheben, damit sie nachprüfen kann, dass sie wirklich weg sind. Vorgestern hatte ich meine Schlafmittel unter der Zunge versteckt und sie später ins Klo gespuckt, weil ich den Schlaf und eine weitere Begegnung mit dem Todesengel zu sehr fürchtete. Am Ende schlief ich dann doch ein und schrie so laut im Schlaf, dass ich isoliert werden musste. Diesmal schienen sie sichergehen zu wollen.
Zu essen gab es die übrig gebliebenen Spaghetti von gestern in Form eines Nudelauflaufes, der ebenso wenig bekömmlich war, wie die vorherige Mahlzeit. Manche von uns gingen danach in den Gruppenraum. Er war wesentlich kleiner als die Kantine und an den Wänden hingen viele Gemälde, die diverse Landschaftsgestaltungen zeigten. Wohl um uns zu beruhigen. Beruhigend finde ich den Gedanken jedoch nicht, mit Menschen in einem Raum zu sein, die mit ihren Schatten reden, drogenabhängig sind, Kuscheltiere aufschlitzen oder drauf und dran sind, sich zu Tode zu hungern.
Ich fühle mich hier falsch. Diese Leute haben wirkliche Probleme, die behandelt werden können und sollten. Mir hingegen konnte niemand helfen. Ich und Irina, wir waren jene die normal sind. Und zu Unrecht hier drin feststeckten. Irina war wegen eines gescheiterten Selbstmordversuches hier. Es gab wohl vieles, das sie belastete. Doch statt sich ihrer anzunehmen, hatten ihre Eltern sie gleich hier hin abgeschoben. Was ich wirklich übertrieben fand. Sicher hatte sie hier gewisse “Gespräche”, doch die hätte sie auch daheim haben können. Eher drängt sich mir hier die Sorge auf, dass sie bei diesen Kranken auch noch eine Psychose abbekommt. Das ist nicht der richtige Umgang für eine labile Kinderseele. Inzwischen sehe ich sie schon als so etwas wie meine kleine Schwester an, auch wenn ich natürlich weiß, dass sie es nicht ist.
Irina und ich haben uns aufs Zimmer zurückgezogen. Sie malte in ihrem Notizbuch. Das tat sie am liebsten. Ich hingegen steckte mir meine Kopfhörer ins Ohr und versuchte mich mit ein wenig Musik abzulenken und vor allem wachzuhalten.
Es klopfte an der Tür und Irina wurde weggeholt. Sie musste zu einem Gespräch mit ihrem Therapeuten. Manchmal fragte ich mich, was wohl in ihrer Akte stehen mochte oder gar in meiner. Vielleicht etwas wie “Schlafstörungen” oder “Angstzustände”. Wobei es das bei Weitem nicht traf.
Die Tabletten schienen anzuschlagen. Denn ich spürte nur noch, wie sich die verdammte Müdigkeit in mir breitmachte und verfluchte mich innerlich dafür, die Tabletten so bereitwillig genommen zu haben. Minuten später schlief ich bereits und fand mich im vertrauten Lichtkegel inmitten der Finsternis wieder. Ein Huschen zog an mir vorüber. „Ich weiß, dass du hier bist!“, rief ich in die Dunkelheit hinein und nur einen Wimpernschlag später stand er hinter mir. Ich konnte seinen Atem in meinem Nacken fühlen und sogleich fuhr mir ein kalter Schauer über den Rücken. Langsam drehte ich mich herum und blickte in die stahlgrauen Augen des Dämons, der mich nun schon seit Monaten tyrannisierte. Die schwarzen Schwingen hatte er bedrohlich ausgeweitet und sein gestählter Oberkörper wirkte so kalt in diesem Dämmerlicht, wie der Ausdruck in seinen Augen. „Was ist, hast du es dir überlegt?“, stellte er dieselbe Frage, wie bereits einige Male zuvor. Er wollte befreit werden, doch wer weiß, was dann geschieht. Ich wollte nicht diejenige sein, die ihm das Tor zur realen Welt öffnet, denn wer weiß, welches Unheil er dort anrichten würde. „Meine Antwort lautet nein!“, brachte ich zerknirscht hervor, ehe er seine Hand um meine Kehle legte. Die schwarzen Haare hingen ihm fransig und verschwitzt im Gesicht, als dieses vor meinen Augen verschwamm. Als ich aufwachte, war ich allein in meinem Zimmer. Mein Hals schmerzte und ich holte einige Male tief Luft, weil ich das Gefühl hatte, dass mir diese zuvor weggeblieben war. Panik beschlich mich, als ich mich schließlich aufrappelte und zitternd ins Badezimmer schleppte. Seine Handabdrücke waren noch deutlich zu sehen, dort, wo er mich gewürgt hatte. Sind es überhaupt noch Träume, wenn mir die Blessuren jedes Mal bis in die Wirklichkeit nachfolgen? Und was, wenn er seine Drohungen wahr machen würde? Ich hatte keine Macht gegen ihn und konnte jene, die mir lieb sind, nicht schützen, sollte er sie im Schlaf heimsuchen. Doch befreien konnte ich ihn auch unter keinen Umständen …