Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Was sie getan haben, begleitet uns bis heute.
Eine seltsame Mischung aus Interesse, Schuld und gelangweiltem Pflichtgefühl streift durch die gut besuchten Hallen. Das Museum für Kriegsgeschichte erhält Aufschwung, wann immer wir den Untergang befürchten.
„Kurt, kommst du?“ Mit schlurfendem Gang folgt der Angesprochene dem Ruf seiner Mutter. Sie ist aufgeregt, regt sich auf, vielleicht mehr als die anderen Statisten in diesem Film, der keiner ist. „Unfassbar“, stöhnt sie entsetzt auf einen Kunstruck deutend, der in Schwarz-Weiß einen Berg aus Schuhen zeigt. „Unfassbar schrecklich!“ Er nickt, ernsthaft zugleich hoffend, der nachmittägliche Spaziergang durch eine Vergangenheit, die nie seine war, möge bald enden. „Wirklich schlimm.“
Das dimme Licht flackert eiskalt zwischen Exponaten, hier und da leuchtet tödliches Orange hinter bösen Männern, deren moralischer Kompass damals wie heute in Scherben lag.
„Ich brauche eine Pause“, gibt die Mutter beschämt zu. „Gehen wir in den Hof, einen Kaffee trinken?“ Wieder nickt Kurt, verständiger als vorhin und wendet seinen Blick ab vom mageren Kind, das weder Kaffee noch Pausen kannte. „Ja, klingt gut.“
Was sie nicht getan haben, wird zu unserem Alptraum.
Betroffene Stille, durchzogen von Besteckklackern und peinlich berührtem Schlürfen, verliert sich im Innenhofrestaurant. Das Museum für Kriegsgeschichte erhält Aufschwung, wann immer wir Geschehenes betrauern.
„Da bekommt man richtig Angst“, flüstert die Mutter ihr Heißgetränk umklammernd. „Wir müssen alles Menschenmögliche unternehmen, damit so etwas Scheußliches nicht nochmal passiert!“ Zustimmendes Grummeln ertönt am Nachbartisch, während Kurt auf dem Strohhalm seines Slushies kaut. Natürlich gibt er ihr im Grundsatz Recht und das ist für ihn in der Tat dermaßen selbstverständlich, dass es ihm oft nicht einfällt, seine so offensichtliche Position zu erklären. Lediglich ihr bevorzugtes Vorgehen widerstrebt ihm, teilweise zutiefst. „Deswegen sollten wir diese Schweine rasch aus der Politik, den Medien und dem öffentlichen Leben vertreiben, sie mitsamt ihrer grässlichen Gesinnung dem Erdboden gleichmachen“, proklamiert sie wie aufs Kommando und erntet abermals grunzenden Beifall von den Teetrinkern nebenan.
„Ich weiß nicht.“ Schock tritt in die blassen Augen der Mutter, der Mund geht auf, zu, dann wieder auf, als sie empört eine Begründung für diesen für sie inakzeptable Einwand fordert.
„Nun, Zensur und Verbannung sind keine stichhaltigen Argument, kein Weg zur Verständigung, sondern der Dung, mit welchem der Gegner seine Saht füttert.“
Was sie getan haben, droht uns heute.
Aufruhr, erzürntes Murmeln schwebt über die Tische und die Barriere der sozialen Freundlichkeit kommt ins Schwanken. Das Museum für Kriegsgeschichte erhält Aufschwung, wann immer unser Tatendrang nach Zielen sucht.
„Kurt!“, donnert die Mutter vorübergehend ihres Mutterstolzes beraubt. „Wie kannst du das sagen?“ Seine Gelassenheit wirkt nur gegen außen, innerlich wüten Nervosität und Scham. Es bedarf keiner Zusage, keinerlei Übereinstimmung mit der Meinung der verhassten anderen, alleine ihre Menschlichkeit anzuerkennen reicht aus, um in ihre Farben gehüllt zu werden. „Ich habe dich nicht großgezogen, damit du eines dieser dreckigen Schweine werden kannst!“
„Mama, überlege doch“, appelliert Kurt ohne große Hoffnung. „Wem Stimme und Gehör genommen wird, der brüllt bloß lauter und verschließt die Ohren.“ Frenetisches Kopfschütteln, vors Gesicht gehaltene Hände preschen auf ihn ein, ebenso wie stumm-kreischende Vorwürfe, die Aberkennung seiner moralischen Integrität.
„Solche Leute verdienen keine Stimme, erst recht kein Gehör“, bestimmt die Mutter kurzerhand ihre Faust auf den Tisch schlagend. Ihr Verlangen wird vom Gegner geteilt, auch wenn die gegenüberliegende Seite gerne andere still und machtlos sähe. Eine Hummel saust davon, hinfort vom aufgeladenen Ort und im Gepäck trägt sie Humor, Satire sowie unvoreingenommenen Diskurs. Kurt flöge am liebsten mit ihr davon.
Was sie nicht getan haben, wird unsere Realität.
Schweigsame Wut schwappt unter den festen Tritten der Mutter, hallt durch den reich bestückten Ausstellungsraum. Das Museum für Kriegsgeschichte erhält Aufschwung, wann immer wir Projektionsflächen für unseren Frust benötigen.
Er zupft einige Mohnsamen von seinem Jackett und stolpert ihr mit gesenktem Haupt hinterher. Er wusste, sie erwartete von ihm keine Heldentaten, selbst untätiges Nasepopeln könnte sie ihm verzeihen, solange er es sich verbot außerhalb der hausüblichen ideologischen Kammer Individuen anstelle von dummen Maßen zu erkennen. Er ist ihr Sohn, ihr einziges Kind und bald wäre sie sich seiner Reinheit wieder sicher, vergäße seinen Hang zur kühl moderaten Logik. Er steht keinesfalls in der umstürmten Mitte, zögert allerdings mit dem Marsch ans extreme Ufer, bleibt für den Geschmack der Mutter zu weich in seiner Gegenwehr. Ihre Überzeugung in den stetig weiter ausufernden Gegenpol wächst mit jedem Tag, sieht sich in der gleichermaßen wuchernden Opposition gestärkt. Bei Kurt gedeiht derweil die Skepsis, inwiefern Feuer und Feuer in einer fruchtbaren Zukunft, statt dem Inferno enden soll.
Was sie getan und nicht getan haben, tun wir stets wieder und tun es nicht. Auf beiden Seiten.
Panische Ratlosigkeit strömt über die Welt, eckt an Gedanken an und zwingt uns zum gewaltigen Aufschrei gegen die nagende Verzweiflung. Das Museum für Kriegsgeschichte erhält Aufschwung, wann immer wir die Geschichte mit guten Absichten wiederholen.