Dies ist der 7. Teil der Fortsetzungsgeschichte „Wissen ist Macht“.
„Wie kann man das ignorieren?“, ereiferte sich meine kleine Schwester. Charlene war seit ihrer Kindheit ein Dickschädel gewesen. „Sie wollen, dass wir jeden Blödsinn glauben, den sie uns vorsetzen, das muss man doch sehen. Ada, hörst du mir überhaupt zu?“
Tat ich nicht, schlicht und einfach weil ich nie hörte, wenn es darauf ankam.
„Nochmal von vorn“, stöhnte Frederique ungeduldig und entnervt durch meinen Ohrstecker. „Sonst sind mehrere Jahre Vorbereitung für die Katz!“
Marten klang alles andere als glücklich. „Ich tue, was ich kann.“
„Zehn Minuten, dann ist der Countdown für die Sprengung abgelaufen. Wartezeiten gibt es keine, das hier ist eine Revolution! Niemand hat den Luxus, ein Tölpel zu sein.“
Autsch, der hat gesessen, spottete ich stumm mit einem fiesen Grinsen, das gegenüber meinen Kameraden sicherlich unangebracht war, aber ich mir in Anbetracht der Tatsache, dass sie hinter meinem Rücken Pläne schmiedeten, erlaubte. Gerne hätte ich nachgefragt, was die Leute vom Widerstand mit mir beabsichtigten, nur, wenn ich offen sein sollte, vertraute ich ihnen keineswegs und hatte mich entscheiden, vorerst gute Miene zum möglicherweise bösen Spiel zu machen, das geringere von zwei Übeln zu wählen; immerhin gewährten sie Charlene Asyl. Zudem verfügte ich über ein letztes, mächtiges Druckmittel.
„Benötigen Sie sonst noch etwas, Officer?“, erkundigte sich der Tontechniker respektvoll und ich verneinte. Es brachte Vorteile mit sich, eine gefürchtete Regierungsangestellte zu sein, die bloss ihren Ausweis des Wissenskorps zeigen musste, um sich fast überall Zutritt zu verschaffen. So wie beispielsweise zu diesem Aufnahmestudio des nationalen Mediensenders. Die Angst vor meiner Regierungsbehörde griff tief in der ganzen Bevölkerung, was ironischerweise meinen Zielen als Widerstandskämpferin zugutekam. Nachdem ich den armen Techniker lange genug warten liess, damit er garantiert nie wieder freiwillig in den Raum zurückkehrte, erwiderte ich mit dem freundlichsten Lächeln meines Repertoires: „Nein, danke, das ist alles. Ich gebe Ihrem Vorgesetzten Bescheid, wenn ich hier fertig bin.“
Mit einigen höflichen Floskeln und der schlecht kaschierten Einschüchterung eines jeden vernünftigen Bürgers, huschte der junge Kerl von dannen und liess mich mit der gesamten Ausrüstung zurück, der ich offiziell niemals zu nahe kommen dürfte. Ich erinnerte mich an all die Fälle während meiner abscheulichen Karriere, in der Angst die einzige Motivation gewesen war. An die Leute, die ich für lange Zeit weggeschickt hatte, hinter Gitter, auf die Insel. Zugleich wusste ich, würde ich die Drecksäcke, die Charlene dasselbe angetan hatten, jemals in die Finger kriegen … Stehe ich wohl ebenfalls auf den Todeslisten trauernder Angehöriger?
„Ada, bist du in Position?“ Frederique klang konzentriert. „Ich bin am Güterbahnhof angelangt, unsere Fluchtfahrzeuge stehen bereit.“
„Ich bin da, das System läuft“, berichtete ich mechanisch. Ada ist stets da, tut was man ihr befiehlt, hinterfragt nichts. Ada ist zwar keine wahre Gläubige, allerdings wählt Ada den Weg des geringsten Widerstandes.
Um mich herum herrschte absolute Dunkelheit, als mich das Cell-Com aus meinen Albträumen riss. Ich brauchte ein Weilchen, mich an die Realität zu gewöhnen, ehe ich den Anruf annahm. Bevor ich etwas sagen konnte informierte mich eine Computerstimme des Wissenskorps darüber, Charlene fahre für einige Zeit in Urlaub. Ich hatte es nicht kommen sehen wollen, hätte es dennoch wissen müssen.
Alle mussten in Position sein, immerhin wollte eine Revolution nicht nur durchgeplant sein, sondern auch präzise ablaufen, wenn sie Erfolg haben sollte. Da endlich erklang Frederique: „Ada, in zwei Minuten ist es so weit, mach dich bereit.“
Ich erhob mich, schloss die Tür ab und zog meine Dienstwaffe, die anschliessend auf den Tisch legte. Mit Glück wäre sie überflüssig. Leider konnte ich mich nicht auf Glück verlassen, was jetzt kam, konnte sehr wohl mein Ende sein. Vor dem Kampf gegen den Titanen musste ich einen anderen Kampf ausstehen, einen moralischen gegen den Hammer und diesmal hatte ich die Oberhand.
„Nein“, konterte ich betont entspannt, einen Blick auf die Uhr werfend. Noch eine Minute und vierzig Sekunden, es war nun zu spät, abzubrechen, der Countdown lief.
„Scheisse, Ada, was soll das? Wenn du unser Statement nicht sendest, dann …“
„Weisst du, ich wollte nie etwas hören oder sehen, glaubte erst der Regierung, danach dem Widerstand. Lügen gegen naiven, unvorbereiteten Idealismus. Und da kommt ihr daher, habt alles durchstrukturiert, kennt auf jede Frage eine Antwort und wieder wollte ich nicht hören, nicht sehen …“
„Lovelace!“, bellte er mich mit meinem Codenamen an, „Egal, was du willst, raus damit! Uns bleibt noch eine Minute!“
Zum ersten Mal war ich diejenige, welche die Oberhand hatte. „Ich habe gehört, was du und Marten über mich beredet habt. Entweder, du sagst mir, was verdammt nochmal ihr mit mir vorhabt, oder ich werde das Communiqué nicht ausstrahlen und es gibt heute keine Revolution.“
Die Besorgnis war ihm anzumerken, der erprobte Haudegen fürchtete sich tatsächlich vor mir! „Ada, ich …“
„Ich warte“, gab ich kalt zurück. „Fünfzig Sekunden.“
„Okay, okay“, rief er beschwichtigend, ehe es aus ihm heraussprudelte: „Ada, versteh doch: Ohne Opfer funktioniert es nicht, wir brauchen eine Märtyrerin, jemanden, mit dem sich die Leute identifizieren können, dem sie folgen wollen.“ Er seufzte. „Du bist das Gesicht des Widerstands!“
„Scheisse“, entfuhr es mir. Hatte ich das kommen sehen? Ein Teil von mir ahnte es sicherlich, bloss, ich wollte natürlich nicht sehen, wie üblich. „Wieso habt ihr mir das verschwiegen?“
„Weil du niemals zugestimmt hättest“, fuhr mich Frederique an. „Du kannst mich dafür hassen, aber stell dir die Frage, ob du die Leute, die Charlene gequält haben, mehr hasst. Und falls ja, sende die Scheiss-Botschaft, sonst geht alles endgültig unter, wofür du gekämpft hast!“
Drei Sekunden, zwei, eine Ewigkeit, in der mir die Wahl zwischen den Übeltätern des Staates oder den Verrätern aus den eigenen Reihen blieb. Eins. Mein Finger berührte sanft den „Send“-Button in dem Hologramm und ich liess mich in den Stuhl fallen.
Nahezu zeitgleich erschütterte eine ferne Explosion den Boden, die den zweiten Notfallsender der Regierung verschlang und ihnen damit die letzte Chance raubte, unser Piratenprogramm aufzuhalten. Ich starrte auf das Holobild, auf dem statt uns allen lediglich ich zu sehen war; sogar die Aufnahme hatten sie bearbeitet. Nun stand Ada, die behauptete, es sei eine Notwendigkeit, auf die Strasse zu gehen, die zu zivilem Ungehorsam aufrief, ganz alleine auf jedem Holoscreen der Welt, wurde zur Ikone des Widerstandes. Ungläubig fixierte ich die perfekt ausgeleuchtete, kleine Version von mir, die über der Tischplatte flimmerte.
„Es tut mir leid, das war die einfachste …“, begann Frederique und ich unterbrach ihn harsch. „Nein, du setzt mir keine Ausreden vor! Wenn ich diese Sache überlebe, kaufst du dir besser Schienbeinschoner und was, um deine Intimregion zu schützen, denn ich werde dich sowas von verprügeln! Ehrlich, im Moment solltest du die wünschen, dass das Regime gewinnt und ich wie geplant ins Gras beisse!“ Beinahe wäre ich bei dem absurden Gedanken, wie ich auf den Hünen eindresche, in Gelächter ausgebrochen.
Mir war bewusst, wie massiv die Gefahr für mich war, zweifellos war längst jeder Beamter, der eine Waffe trug, hierhin unterwegs. Ohne Frederique zu Wort kommen zu lassen, machte ich mich bereit zu gehen und fügte ernst hinzu: „Sofern ich diese Misere nicht überlebe, kümmert ihr euch um Charlene. Ich hoffe, so viel Ehrgefühl habt ihr noch übrig.“
Damit schaltete ich das Cell-Com aus und zertrat es, orten würde mich niemand können. Ich schritt auf den einzigen Ausgang zu, als ein Rammbock gegen die solide Tür prallte. Es war vorüber und das wusste ich, alles, was mir blieb, war die Entscheidung, wie ich abtreten wollte. Meine Aufmerksamkeit wanderte zur bereitliegenden Dienstwaffe, ich konnte mich nicht dazu bewegen, sie aufzuheben, sogar als das Schloss splitternd nachgab.
„Ada Callahan? Im Namen der Einheit verhafte ich Sie wegen Ideologieverbrechen der Stufe Eins. Sie haben das Recht zu …“ Ich blendete die Stimme des Offiziers, der allerhöchstens meinen Rang hatte, aus und sank auf die Knie, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Das also war das Ende der Reise. Keine Fanfaren, keine Alliierten, kein Widerstand, nur ich und meine Widersacher, die ich so sehr gehasst hatte. Erst taub vor Ignoranz, dann blind vor Wut. Jetzt, da nichts mehr meiner Kontrolle oblag, konnte ich sehen, konnte ich hören, ich war freier denn je zuvor. Ich lächelte aufrichtig; und zum ersten Mal seit langem.