Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Es roch süßlich nach den unzähligen Blüten der Pflanzen und ab und an war der kehlige Laut eines Raubtiers zu hören, während Han durch den Dschungel rannte. Er sah weder nach rechts, noch nach links sondern bloß geradeaus, auf sein Ziel fixiert und nichts würde ihn davon abhalten können es zu erreichen, nicht das grauenhafte Seitenstechen und nicht das Gefühl, dass seine Beine jeden Augenblick nachgeben würden. Für ihn gab es nur noch das Pochen seines Pulses, das er unglaublich laut in seinen Schläfen hören konnte und die Gegner hinter ihm. Noch etwa einen Kilometer bis zur Grenze, gleich wäre er gerettet – oder tot. Ohne an Geschwindigkeit zu verlieren kramte er das Satellitentelefon aus seinem kleinen Rucksack und wählte eine elendig lange Telefonnummer, wohl wissend, dass er bei der geringsten Unachtsamkeit straucheln konnte. Er ließ es wie vereinbart drei Mal läuten und legte dann auf – niemand würde abnehmen, doch das war auch nicht notwendig, denn sie wussten, dass er kommen würde.
Wenige Minuten darauf war Han endlich an dem Canyon angelangt, auf dessen anderer Seite die rettende Demokratie auf ihn wartete. Die Sonnenstrahlen zeichneten sich in dem wabernden Dunst ab, welcher über dem Abgrund schwebte, der lediglich von einer schmalen und maroden Hängebrücke überspannt wurde, die nicht sonderlich einladend wirkte. Am Ende seiner Kräfte stolperte er auf die Holzplanken zu, die nur von Seilen zusammengehalten wurden und trat auf die Brücke hinaus, die unter seinem Gewicht leicht zu schwanken begann, während die Holzdielen knarrten. Er glaubte, die Freiheit bereits riechen zu können, das Ende seiner Mission, die Rückkehr in ein normales Leben und vor allem Entspannung und Müssiggang. Er würde endlich seine Mahlzeiten wieder mit Appetit genießen können und sich – zumindest für einige Wochen – zurücklehnen können. Und weiter schritt er, Meter für Meter auf die Freiheit zu, weg von dem Hoheitsgebiet des Feindes. Es war eine harte Woche gewesen. Seine Einheit mit dem Decknamen Rotkäppchen war von den verfluchten Kommis ausgelöscht worden und er war der einzige Überlebende. Sie hatten nicht einmal versucht, Gefangene zu machen – nicht angesichts der Informationen, die Han und sein Team hatten extrahieren können, nein, da machte man sich dazu nicht mehr die Mühe. Das war Kriegsführung in einer neuen Dimension, und Rotkäppchen war verflucht nochmal die letzte Chance die Freie Welt zu retten. Mit den feindlichen Plänen in seiner Tasche war er nun bereits seit einiger Zeit durch den Dschungel gejagt worden wie ein räudiger Hund und sie hatten alles daran gesetzt, ihn möglichst schnell auszuräuchern und ein- für allemal zu erledigen. Kaum etwas war Han geblieben, denn den Werkzeugkasten und die Waffen hatte er an dem Ort ihres Einbruchs zurücklassen müssen, als die Maschinengewehre seine Kameraden niedergemäht hatten. Er hatte es alleine schaffen müssen, ohne taktische Unterstützung oder Kontakt zur Außenwelt, da sie sein Telefon hätten orten können, noch bevor einer der dunkeln Vögel zu seiner Rettung herangeeilt wäre.
Wie auf ein lautloses Kommando konnte Han in diesem Augenblick das Geräusch von den Rotorblättern eines Hubschraubers hören, das zwar weit entfernt war, doch rasch lauter wurde – sie kamen von der guten Seite, sie waren tatsächlich hier, um ihn abzuholen und nach Hause zu bringen. Der Schrei eines Vogels ließ ihn zusammenschrecken und er hielt kurz auf der Brücke inne. Weiter als bis etwas über die Mitte weg durfte er nicht gehen. Er wusste, dass die andere Seite gesichert war und er keine Chance hatte, sicher durch das Minenfeld zu marschieren. Nun galt es, auf den rettenden Helikopter zu warten und zu hoffen, dass seine Leute vor dem Feind bei der Schlucht waren – die Rettung war beinahe schon zum Greifen nahe. Es gab nichts weiter, das er hätte tun können doch auch, wenn er keine Rufe der Feinde aus den Tiefen des dichten Urwaldes hören konnte, bedeutete das dennoch nicht, dass die Roten nicht schnell näher kamen.
Han zitterte vor Erschöpfung, er war am Ende seiner Kräfte und ihm schien schon allein die Vorstellung daran, gleich noch eine Strickleiter hochklettern zu müssen, ein unüberwindbares Hindernis zu sein. Doch vor ihm lag die Freiheit und er würde nicht aufgeben und alles tun, um sicher nach Hause zu kommen und die letzte Operation von Rotkäppchen trotz allem was geschehen war, zu einem guten Ende zu bringen. Es lag ganz allein an ihm, dass die Regierung die Pläne des Gegners sehen konnte, bevor dieser eine Chance hatte, handeln zu können und nur so konnte noch Schlimmeres verhindert werden. Er freute sich schon auf den Augenblick, in dem er die Informationen endlich losgeworden war und seine Familie ihn am Landefeld erwarten würde, während er in voller Uniform aus dem Transportflieger steigen würde. Er würde nie Martens Gesicht vergessen, das er in dem Augenblick gemacht hatte als sein Kamerad von Kugeln durchsiebt worden war und zu Boden fiel – alles hatte seinen Preis. Und für Han bedeutete Freiheit zusammen mit seiner Frau, mit der er über seine Arbeit nicht sprechen durfte, auf ein stilechtes Oktoberfest zu gehen, auf dem er Lederhosen und sie ein Dirndl tragen konnten. Solche Erinnerungen waren es, an die er als letztes vor seinem Tod denken wolle und nicht seine Kameraden, die er ihrem Schicksal hatte überlassen müsste. Dies waren das Leben und das Land, die er schützte und für die er kämpfte. Er konnte den üblichen Trinkspruch der Soldaten im Lager in seinem Kopf wiederhallen hören, wenn seine Einheit erfolgreich von einer Mission zurückgekehrt war: „Ein Hoch auf die Kommunistenjäger!“ Ja, Rotkäppchen hatte mehr Feinde ausgeschaltet und Geheimnisse enthüllt als irgendein anderes Team, doch nun ging es damit für immer zu Ende. Dieses Desaster war der letzte Einsatz, das allerletzte Mal, dass er sich weit hinter feindliche Linien gewagt hatte und ja, er hatte es sich verflucht nochmal verdient endlich zu seiner Familie zurückzukehren, denn dieser Krieg würde auch ohne ihn zu einem guten Ende kommen, so lange die Pläne rasch genug ihren Weg durch die Befehlskette machten.
Han wurde von dem Anblick des zwischen den Baumwipfeln auftauchenden Helikopters aus seinen Gedanken gerissen. Die Rotoren wirbelten den Morgennebel auf und er konnte schon seine Kameraden erkennen, die ihm zuwinkten und eine Strickleiter bereithielten, die sie jeden Moment zu ihn hinunterlassen würden. Er blickte so gebannt nach oben, dass er die von einigen, durch den Lärm herbeigerufenen, Gegnern geworfene Handgranate übersah, welche über die Brücke polterte und gleich darauf detonierte. Die wackelige Konstruktion unter seinen Füssen gab nach und stürzte in die Tiefe, während Han erschrocken nach dem letzten Seil griff, das noch über der Schlucht spannte und ihn davor bewahren konnte in den reißenden Fluss zu stürzen. Er schaukelte an dem labilen Halt, der langsam aber sicher nachzugeben drohte und der Rucksack mit den unentbehrlichen Plänen hing dabei bloß noch lose an seinem Arm. Über ihm knatterte nun das Maschinengewehr seiner Leute, die wohl die Feinde ausschalten wollten und er konnte sehen, dass die Strickleiter heruntergelassen wurde, doch sie war zu weit entfernt. Han begriff, dass ihm nicht mehr genug Zeit bleiben würde und er wusste, dass er eine Entscheidung treffen musste. Ohne weiter nachzudenken, hakte er den Rucksack an dem schon ziemlich geschwächten Seil ein und hatte das Gefühl, dass sich sein Magen umdrehen würde, doch Rotkäppchen würde auch dieses Mal nicht scheitern – widerstrebend und mit einem panischen Gefühl ließ Han das Seil los, bevor die Pläne in den Abgrund gestürzt wären. Während er fiel, glaubte er ein frisches Omelett riechen zu können und bekam bereits Appetit auf das Frühstück, bevor er sich ein allerletztes Mal an seine Frau erinnerte, wie sie in dem Dirndl und mit einem Bierkrug in der Hand am Tag vor seiner Abreise lachend und scherzend an dem großen Holztisch gesessen hatte. Ja, das war die Freiheit.