Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Rückwärts
Der Fensterladen hielt meinem immer schwächer werdenden Körper stand und ich wurde ohnmächtig. „Keine Angst Schatz“, habe ich wenige Augenblicke zuvor gesagt, „wir werden schon hier rauskommen.“ Ich positionierte Sina in einem Anflug von mechanischer Rationalität in die stabile Seitenlage, nachdem ich bemerkt hatte, dass sie bewusstlos auf dem Teppich lag. Panisch schlug ich mit beiden Händen gegen den Fensterladen, doch egal was ich tat, das massive Holz wollte nicht klein beigeben.
„Sina!“, rief ich, doch sie reagierte nicht. Fahrig wischte ich die Scherben beiseite um den Fensterladen aufzustoßen, doch er wollte nicht nachgeben. Mit meiner eingewickelten Faust schlug ich zu und beim dritten Anlauf gelang es mir, die Glasscheibe zu durchbrechen. „Schnell, ein Handtuch!“, schrie ich zu Sina, die wie erstarrt neben mir stand, dann sprintete ich selbst ins Bad. Schnell versuchte ich es bei den anderen beiden Fenstern, doch auch diese ließen sich einfach nicht aufstemmen. Es ließ sich nicht öffnen, egal wie sehr ich am Hebel riss. Sina schnappte sich unsere Taschen, währendem ich zu dem Fenster lief, vor dem ein großer Laubbaum stand.
Für einige Sekunden sahen wir uns verloren an, hielten uns an den Händen und rannten dann zurück ins Schlafzimmer. Die Flammen breiteten sich in Windeseile über das ganze Wohnzimmer aus und uns wurde klar, dass wir keine Chance hatten, sie zu löschen. Sina gab mir ihre zusammengeknüllte Netzstrumpfhose, die sie nass gemacht hatte, damit ich sie mir vor Nase und Mund halten konnte, währendem ich vergeblich versuchte, den Feuerherd mit einer Wolldecke zu löschen. Aufgebracht sahen wir uns in der Lodge um und fanden die Ursache für den beißenden Rauch im Eingangsbereich, zwischen der Tür und dem Wohnbereich.
Sie setzte sich auf, nachdem die Zornesfalten auf ihrer Stirn verschwunden waren, vermutlich weil sie die Angst in meinem Gesicht erkennen konnte. Ich rüttelte so fest ich konnte an ihr und es dauerte nicht lange, bis sie mich wütend ansah. Wahrscheinlich reagierten ihre Lungen durch den jahrzehntelangen Tabakgenuss weniger schnell auf den Rauch, denn sie schlief noch immer friedlich, als ich ohne den Hahn zuzudrehen zu ihr ins Schlafzimmer hetzte.
Als mein verschlafener Geist endlich wach wurde, begriff ich, was die eigentliche Ursache für meine röchelnde Atmung war: Da war Rauch!
Kurz überlegte ich mir, ob ich mich vielleicht auf dem Wanderausflug erkältet hatte, immerhin hatte ich gegen Sinas Rat darauf verzichtet, mir einen Schal überzuziehen. Es gelang mir nicht, das Husten zu unterdrücken und auch das kalte Wasser, das genau schmeckte, wie man sich frisches Quellwasser vorstellte, half nicht. Es fiel mir schwer mich in der Dunkelheit zurechtzufinden, wir waren erst heute Morgen in der Lodge angekommen und haben bisher kaum Zeit im Zimmer verbracht. Noch immer schlaftrunken wollte ich nach der Wasserflasche neben meinem Bett greifen, erwischte jedoch das Raumspray und entschloss mich dann, ins Bad zum Waschbecken zu gehen. Aus Gewohnheit sah ich auf die Uhr, es war kurz nach Mitternacht und wir hatten eine knappe Stunde geschlafen. Wegen einem heftigen Hustenanfall wachte ich auf.
Vorwärts
„Wie meinst du das?“ Jonas war stehengeblieben und starrte mich dermaßen entsetzt an, als hätte ich ihm gerade erzählt, ich würde jedes Wochenende Hundewelpen in heißes Frittenfett werfen. Ich kannte den Blick bereits und konnte mir ein leicht amüsiertes Grinsen nicht verkneifen, antwortete jedoch so einfühlsam, wie es mir eben möglich war: „So wie ich es sagte, ich bin Atheist. Lass dich davon nicht zu sehr abschrecken, Jonas, wir sind doch alle aus demselben Grund hier.“
Das stimmte, wir alle waren für den Spendenlauf gekommen und wollten unsere Zeit für einen guten Zweck einsetzen. Ich hoffte, die Glaubensdiskussion mit dieser Bemerkung vom Tisch fegen zu können, doch Jonas war damit nicht zufrieden und meinte spöttisch: „Du glaubst also nicht an Gott, was?“
Seufzend schüttelte ich den Kopf und begann mir zu überlegen, ob der hagere Typ, den ich gerade erst beim Training kennengelernt hatte, mir die Mühe wert war, das Gespräch weiterzuführen.
„Was machst du dann überhaupt hier? Dir kann es ja egal sein, wenn die armen Kinder verrecken!“, fuhr Jonas mit eng zusammengezogenen Augenbrauen fort. Perplex öffnete ich den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn dann aber wieder. Ich kannte das Argument, dass Atheisten aus Prinzip keine Anlass dazu hätten, etwas für andere zu tun, aber so dreist hatte mich bisher noch niemand angefahren.
„Weißt du“, brachte ich schließlich hervor und kratzte nachdenklich mein Kinn, bevor ich fortfuhr, „lass uns doch einfach freundlich miteinander umgehen, zumindest haben wir dieselben Ziele und wollen möglichst viele Kilometer laufen.“ Ich lächelte beschwichtigend, jedoch ohne Erfolg, denn Jonas‘ Ausdruck verfinsterte sich weiter. Plötzlich stapfte er mit großen Schritten an mir vorbei und spuckte mir mit einem verächtlichen Grunzen vor die Füsse.
„Du gottloser Bastard wirst in der Hölle schmoren!“, rief er laut ohne sich nach mir umzudrehen und verschwand wütend vor sich hin murmelnd hinter dem nächsten Hügel. Soviel zu Moral und Nächstenliebe unter Gläubigen, dachte ich bitter, doch die Aussicht auf die farbprächtigen Wälder der Catskill Mountains hatte mich innert Sekunden wieder beschwichtigt. Solche Leute gab es nun einmal in jeder Glaubensgemeinde, genauso wie überall sonst auch. Jonas war ein Fanatiker, nichts weiter, also schüttelte ich den Gedanken an ihn ab, dehnte meine schmerzende Achillessehne und machte mich auf den Weg zurück in die Lodge. Sina würde bestimmt schon auf mich warten und mich mit ihren liebevollen Sticheleien dazu bringen, ihr beim Kochen zu helfen. Naja, schmunzelte ich in mich hinein, wenigstens hat sie für diesen Ausflug ihre lächerlich große Auswahl an Küchengeräten zuhause gelassen und ich würde mich nicht mit ihrem blöden Ananas-Schneider rumplagen müssen.
Stopp
Es war aufwändiger gewesen, als er angenommen hatte, aber letztendlich hatte er es vor Einbruch der Nacht geschafft, genügend Material für sein Vorhaben zusammenzubekommen. Nägel, Schrauben und Werkzeug hatte er sich einfach von der Resort-Leitung ausgeliehen und war erstaunt gewesen, dass die nette Dame am Empfang nicht ein einziges Mal nachgefragt hatte, wofür er das alles brauche. Die Holzlatten hatte er gestern schon hinter der Scheune entdeckt und sie vorhin einfach mitgenommen. Natürlich würde er sie später wieder zurückbringen, wenn noch etwas von ihnen übrig sein würde oder dem Lodge-Team ein speziell großzügiges Trinkgeld geben, denn er würde nie im Leben etwas einfach so stehlen. Was den Inhalt seiner Benzinkanister anging war er sich etwas unsicher. Vermutlich würde die Menge locker ausreichen, um seinen Plan in die Tat umzusetzen, aber zur Sicherheit goss er noch etwas Glasreiniger und Insektenschutzmittel in den Behälter. Nachdem er alles im Gebüsch hinter der Lodge Nummer Siebenunddreißig versteckt hatte, kontrollierte er abermals den Inhalt seiner Hosentasche und ging zur Bar, wo er widerwillig drei Flaschen Bier kaufte.
Es dauerte eine Weile, bis er die beiden Heiden gefunden hatte, sie hatten es sich fernab der anderen Sporttouristen auf einer Hollywoodschaukel gemütlich gemacht. Das Ehepaar schien ihn nicht bemerkt zu haben und war in eine Diskussion über irgendetwas mit Ananas vertieft zu. Er blieb einige Meter entfernt stehen und räusperte sich laut.
„Ich“, holte er aus, sah auf den Boden und konzentrierte sich darauf, schuldbewusst und nicht schadenfreudig auszusehen. „Ich wollte mich für vorhin entschuldigen, ich habe mich echt unchristlich benommen. Stoßen wir auf den Frieden an?“ Die beiden wirkten erst verdutzt, aber wie er vorhergesehen hatte, konnten die dummen Heiden dem Teufelsgesöff nicht widerstehen und stießen bereitwillig mit ihm an.
Es war einfach gewesen, die Fenster zu verbarrikadieren, immerhin brauchte er sich nicht davor zu fürchten, dass die beiden Gottlosen vom Hämmern aufwachen würden, nachdem er ihnen etwas Valium ins Bier gemischt hatte. Und glücklicherweise wohnten sie in der äußersten Lodge, weit weg von den anderen, die sich entweder in der Bar vergnügten oder früh zu Bett gegangen waren.
Als alle Vorkehrungen getroffen waren, schlenderte Jonas mit dem Benzinkanister in der einen und der Bibel in der anderen Hand zum Eingang der kleinen Mountain Loge. Der Geruch der hochentzündlichen Flüssigkeit brannte etwas in seiner Nase, als er sie großzügig verschüttete und er konnte das Kichern nur knapp unterdrücken. Gleich würde es richtig brennen, dachte er sich und blätterte routiniert zu seiner Lieblingsstelle des Buchs.
„Gottes Zorn wird jeden Ungläubigen treffen. Vor den Augen des Lammes und der heiligen Engel wird er mit Feuer und brennendem Schwefel gequält werden“, las er andächtig vor und zündete danach das erste Streichholz, das jedoch sofort ausging, als er es in die Benzinlache geworfen hatte. Nach dem dritten gescheiterten Versuch ließ er den Rest der Schachtel anbrennen und sah dann zu, wie sich das Feuer rasch ausbreitete. „Der Rauch ihrer Qual wird aufsteigen von Ewigkeit zu Ewigkeit.“
Schöner Blog. Gratuliere. Weiter so!
LG
Werter Michel,
vielen Dank für die Lorbeeren
Und klar, wir machen immer weiter – Im Zeichen der Literatur und vor allem, der Sturheit ;)
Sau gute Idee, mit dem Rückwärts! Ich hab das erst überhaupt nicht gecheckt :D Als hätte ich noch mehr Clues geliefert, wie Fanatiker, Atheist und irgendwas anzünden. Passt perfekt!
Halli-Hallo Petra
Wenn du wüsstest, wie unheimlich ich mich ab mir selbst genervt habe, weil ich auf die Rückwärts-Idee gekommen bin und diese dann natürlich unbedingt umsetzen musste ^^
Aber die grauen Haare, die ich mir damit eingebrockt habe, sind schnell vergessen, wenn der Clue-Spender mit seiner Story zufrieden ist :)
Liebe Grüsse von der, die so schnell nicht mehr rückwärtsschreiben wird ;)
Rahel
Das kann ich nachvollziehen! War bestimmt mega kompliziert, aber echt ne sau gute Idee!!
Da stehen einem ja die Nackenhaare zu Berge. Leider gibt es solche Fanatiker wirklich. Grauslig, Deine Geschichte, aber nicht so weit weg, wie man erst denkt. Hat sofort ein Bild wachgerufen. Von dem „Albino“ aus Illuminati, der sich mit so einem Bußgürtel selbst geiselt um Gott noch näher zu sein. Auch so ein Kranker.
Unglaublich, zu was für einer Geschichte diese Wörter wurden. Gefällt mir
Hallo Sabine,
freut mich, dass die Geschichte „unglaublich“ geworden ist – insbesondere wegen der Doppelbedeutung ;)
Ich halte mich mit meinen üblichen Kommentaren zu Fanatikern mal zurück, ansonsten sitze ich womöglich noch in einer Woche hier und hämmere aufgeregt auf meine Tastatur. Aber ja, solche weniger freundlichen Zeitgenossen gibt es leider und je mehr sich jemand einer bestimmten Gruppe zugehörig fühlt und sich mit einer Gesinnung identifiziert, desto anfälliger wird er für solchen… nennen wir es mal ganz vorsichtig, Unsinn.
In der Psychologie kann man sich das mit der In-Group/Out-Group Theorie erklären, aber auch Faktoren wie Dogmatisierung und der Wunsch nach Selbstbestätigung sollten neben vielen anderen bedacht werden. Es ist sicher wichtig, die Beweggründe für solches Verhalten zu verstehen, damit man frühzeitig einschreiten kann.
Aber manchmal kommt in mir der simple Wunsch hoch, einfach mal kräftig auf den Tisch zu schlagen und zu schreien: „So, schluss jetzt mit diesem Quatsch, benehmt euch und geht mir nicht auf die Nerven!“ ;)
Liebe Grüsse von der, die immer ihre liebe Mühe hat, sich nicht in Diskussionen über Fanatiker zu verstricken ;)
Rahel