Mit einer Bummelmütze im klassischen Nikolausen-Rot auf dem Kopf, kauerte Melinda auf dem Asphalt. Sie war in der Nähe aufgewachsen, eine knappe halbe Autostunde entfernt, dennoch hatte sie diesen Ort noch nie zuvor gesehen, hatte nicht einmal gewusst, dass hinter dem Bahnhof, welchen sie tagtäglich im Zug passierte, mehr als bloß ein kleines Grüppchen Ferienhäusern lag. Ali war auf die Idee gekommen, sich hier zu treffen, sagte, er hätte die Gegend vor einer Ewigkeit auf einem Schulausflug kennengelernt. Es war Anfang Dezember, heute Abend würden Leute mit falschen Bärten durch die Straßen gehen, um Süßigkeiten zu verteilen. Eigentlich liebte sie die Vorweihnachtszeit, die Kerzen, Lichterketten, den Glühwein und vor allem die friedvolle Stimmung, die man überall antraf. Dieses Mal war ihr die Freude abhandengekommen, selbst die Aussicht auf einen gemütlichen Leseabend am Kamin ließ sie komplett kalt. Ihre Beine näher an den Brustkorb ziehend, wimmerte Melinda leise und lehnte ihren Kopf gegen die feuchte Wand des Bergtunnels, in dem sie Schutz vor dem Schneegestöber suchte. Das Sträßchen zwar wenig befahren, führte in eine Siedlung mit lediglich zwölf Wohn- sowie zwei Bauernhäusern, trotzdem käme bald jemand vorbei, überlegte sie teils erleichtert, teils verängstigt. Auf den sozialen Medien wurde das aktuelle Jahr bereits seit Wochen als das schlimmste überhaupt verschrien und für einmal teilte Melinda die Massenmeinung. Begonnen hatte es im Januar, damals ganz harmlos.
Natürlich hatte sie mit dem obligatorischen Silvesterkater zu kämpfen gehabt, dieser war nahtlos in eine langwierige Grippe übergegangen, die sie bis in den Februar lahmgelegte. Das Skifahren in den Winterferien konnte sie streichen, stattdessen hing sie über der Toilettenschüssel, um sich die Seele aus dem Leib zu kotzen. Am Valentinstag verlor sie dann ihren größten Kunden, angeblich, weil er bei einer anderen Firma vorteilhaftere Vertragskonditionen bekäme. Melissa vermutete dahinter dreiste Schmierung und wurde wenig später in ihrem Verdacht bestätigt, als sie eine ihr bekannte Geschäftsfrau mit ebendiesem Kunden im VIP-Bereich der Oper erspähte. So exklusive Tickets hatte sie nicht zu bieten, der Chef verbot solche Aufmerksamkeiten strikte. Im März erkrankte Melindas Mutter. Zuerst erwartete man, sie habe nur eine böse Bronchitis, das war bevor man den Tumor fand, der wie ein Hütchen auf dem rechten Lungenflügel hockte und darauf abzuzielen schien, die Mutter qualvoll ersticken zu lassen. Anschließend folgten etliche Untersuchungen sowie das elendige Wartespiel, bis endlich ein Termin für die Operation gemacht wurde. Wenige Tage nach dem Eingriff, rief man Melinda in die oberste Etage, ins Büro ihres Vorgesetzten und mit den Worten „Wir sind der Überzeugung, Sie wären in einer anderen Branche glücklicher“, wurde sie gefeuert. Wenigstens der Mai verlief einigermaßen ruhig, ausgenommen von der Stellensuche, welche aufgrund ihrer limitierten Erfahrung durchaus nervenaufreibend war, und einer spektakulär gescheiterten Dinner-Party, auf der sich zwei ihrer besten Freunde fetzten und eine Ehe in die Brüche ging. Im Juni durfte die die Mutter nach Hause, einige Bewerbungsgespräche standen an und beinahe glaubte Melinda, ihre Pechsträhne ziehe sich langsam zurück, es störte sie sogar kaum, dass die Sommerkleidung vom letzten Jahr zu knapp war und der beginnende Haarausfall musste bestimmt bloß stressbedingt sein. Als der Juli kam und sie trotz ihrer Anstrengungen noch keine Anstellung gefunden hatte, ihre Kopfhaut immer sichtbarer wurde und es der Mutter weiterhin unmöglich war, sich länger als einige Minuten vom Sofa wegzubewegen, fühlte sie die Verzweiflung schwerer und schwerer auf ihr lasten. Da war auch der Mondkristall nutzlos, den sie von der Arbeitskollegin zum Abschied geschenkt bekam, im Gegenteil, der hässliche Anhänger nervte sie eher, zumal eine abergläubische Trulle ihren Job behielt, während ihr unklar war, wie sie ihre Miete bezahlen sollte. Gegen Sommerende hatte Melinda endgültig die Nase voll von schlechten Nachrichten, wenn ihr nichts Gutes zustieß, wollte sie das eben selbst in die Hand nehmen. Also stellte sie Ali schlussendlich die Frage, die sie seit ihrem ersten gemeinsamen Jubiläum von ihm hören wollte: „Willst du mich heiraten?“ Lange genug hatte sie mit ihm Sitzfleisch bewiesen, war geduldig geblieben mit ihm und seinem Midlife-Crisis-Freiheitsdrang und es wurde Zeit, ihn festzunageln. Sie hatte die Rechnung ohne ihn gemacht, denn er lehnte den Antrag, wie er sagte, „schweren Herzens“ ab, weil er „nicht bereit für eine feste Bindung“ war. So ging auch der August bitter zu Ende, aber wenigstens schaffte sie es im September, eine Stelle als Büroaushilfe zu ergattern. Mitnichten ihr Traumjob, allerdings blieb ihr keine andere Wahl und Melinda bemühte sich, die Situation als Chance zu wahrzunehmen. Vielleicht konnte sie eine Festanstellung erhalten, wenn sie ihre Arbeit hervorragend ausführte. Gleichwohl nistete sich die Niedergeschlagenheit zusehends tiefer ein, nagte an ihrem ansonsten fröhlichen Gemüt. Im Oktober wurde es leider nicht besser. Die Chemotherapie verlangte viel ab von der Mutter, sodass sie selbst bei Alltäglichem auf Melindas Unterstützung angewiesen war. Deshalb kam sie erst zu Beginn des Novembers dazu, wegen ihrer Unterleibskrämpfe und den starken Blutungen zum Arzt zu gehen, der ihr kurz und knapp mitteilte: „Sie hatten einen Abort.“ Melinda wünschte sich Kinder weshalb sie in Tränen ausbrach, als der Gynäkologe Zweifel äußerte, ob sie jemals eigene haben könnte.
Zweitausendsechzehn war gewiss ein fürchterliches Jahr für Melinda gewesen. Rückschlag folgte auf Rückschlag, privat wie beruflich und irgendwann war sie am Punkt der vollkommenen Hoffnungslosigkeit angelangt. Vermutlich war sie deshalb ausgerastet, zumindest beruhigte sie ihr schlechtes Gewissen mit dem Gedanken. Ächzend richtete sie sich etwas auf, rutschte einige Meter nach links, damit sie aus dem Bergtunnel auf die Lichter des Dorfes hinunterblicken konnte. Wie sie befürchtet hatte, wollte Ali sich nur mit ihr auf „neutralem Boden“ treffen, um ihr den Schlüssel zu ihrer Wohnung zu geben. „Das mit uns wird mir zu eng, du klammerst zu sehr und ich bekomme kaum Luft“, war seine Begründung für den Schlussstrich gewesen, danach hatte er einfach gehen, sie mit all ihrem Kummer alleine mitten im Nirgendwo zurücklassen wollen. Da waren ihr die Sicherungen durchgeknallt. Nun saß sie auf dem nackten Boden, betrachtete wie ein weiterer grauer Tag von der Nacht abgelöst wurde und fragte sich, weshalb noch niemand gekommen war. Man sollte meinen, ein derartiger Zwischenfall, zöge in einer abgelegenen Gegend wie dieser sofort einen Polizeieinsatz nach sich, schließlich kam es selten vor, dass jemand versuchte, einen Ex-Freund mit dessen Schrotflinte zu erschießen. Erneut seufzte Melinda tief, sinnierte über ihr persönliches Katastrophen-Jahr, voller unerwarteter Rückschläge, das mit großer Wahrscheinlichkeit in einer Gefängniszelle enden würde. Um eines war sie jedoch froh. Hätte sie den Rückschlag der Flinte vorhergesehen, wären statt der nächsten paar, alle Jahre in ihrer Zukunft zur Katastrophe verdammt. Hin und wieder können Rückschläge eben auch etwas Positives haben. Der Rute vom Nikolaus, kicherte Melinda in einem Anflug von weihnachtlicher Stimmung in sich hinein, würde sie allerdings ganz bestimmt nicht entkommen.