Isaac kauerte im steinigen Flussbett und trank gierig aus dem glasklaren Rinnsal in dessen Mitte. Es war lange her, seitdem er sich zum letzten Mal so sicher gefühlt hatte und so legte er sich, ausgemergelt und geschwächt, auf den losen Schotter, blickte in den klaren Sternenhimmel und erlaubte sich, tief und erlöst durchzuatmen. Hinter ihm rauschte der breite Fluss, in welchen der Bach führte und das Kloster brannte, es brannte lichterloh.
Am Tag seiner Erstkommunion war die Nacht ungewöhnlich früh hereingebrochen, er war zu Bett gegangen und am nächsten Morgen mit zehn Jahren und ohne Mutter aufgewacht; zum ersten Mal hatte er als Mann geweint. Sein Vater, zerrissen von Wehmut, hatte mit ihm kurz darauf eine dreitägige Reise unternommen und ihm an deren Ende Linderung versprochen. Isaac konnte sich noch gut daran erinnern, wie er im Bahnwaggon sitzend aus dem Fenster gestarrt hatte, mit der arglosen Hoffnung im Herzen, seine Mutter würde auf dem nächsten Bahnsteig auf ihn warten – doch das hatte sie nicht getan.
Sein Vater, Ergraut vor Kummer, hatte sich irgendwann aus seiner katatonischen Trauer gelöst und Isaac war weniger verwundert als erfreut darüber gewesen, dass ihm erstmals väterliche Fürsorge zuteil geworden war. „Weißt du, mein Sohn“, hatte der alte Herr mit seiner raunenden Stimme zu erklären begonnen, währendem er seinen billigen Tabak in dünnes Papier gerollt hatte. „Dies ist eine Prüfung Gottes“, hatte er mehrfach erklärt und Isaac, der stets eine vertraute Bindung zu dem Allmächtigen verspürt hatte, damit die Angst und das Gefühl der Verlassenheit genommen. Der liebe Herrgott hatte es für richtig gehalten, seine Mutter verfrüht zu sich zu holen, denn Isaac mochte hinter all dem Leid nicht bloße Zufälle vermuten. Und wenn selbst sein Vater, dessen Glauben er sich nicht immer sicher gewesen war, davon überzeugt war, mochte es wohl die reine Wahrheit sein. Ihr Tod war ganz im Sinne des großen Schöpfers gewesen und irgendwann, so hatte er sich gedacht, würde er die Güte Seines Plans erkennen können. Die drei Tage vergingen wie ein Wimpernschlag und ehe er es sich versehen hatte, waren die beiden Männer vor dem großen Gusseisentor des Klosters gestanden und der Vater hatte ihn nach kurzem Abschied alleine zurückgelassen; zum zweiten Mal hatte er als Mann geweint.
In der Ferne war aufgeregtes Rufen zu vernehmen und als der Wind sich in seine Richtung drehte, brannte der Rauch unangenehm und doch so lieblich in seinen Augen. Gemächlich setzte sich Isaac auf, bereit sich der nächsten Aufgabe zur Erfüllung seines Plans zu widmen und kratzte sich in annähernd ritueller Manier über sein flaumiges Oberlippenbärtchen. Hinter ihm wurden die Schreie lauter und die Welt wurde zu Asche, zu aufgewirbelter Asche.
Nach den ersten Wochen im Kloster war Isaac von großem Heimweh geplagt worden und er hatte damals noch gedacht, dass es gleichsam der vorbeiziehenden Zeit irgendwann in Vergessenheit geraten und dass seine Stärke wachsen würde. Also hatte er sich darum bemüht, stets zu tun was von ihm verlangt und gutgeheißen wurde: Er war vor allen anderen aufgewacht und hatte seine Arbeiten ohne Widerrede erledigt, im Glauben, dass sie ihm irgendwann Freude und Genugtuung schenken würden. Er lernte die Psalmen mit Hingabe und Ernsthaftigkeit und seine Gebete waren demütig, ja beinahe fieberhaft, als wäre er wie eine Gottesanbeterin, deren einziger Zweck auf Erden das immerwährende, stille Flehen war. Im Verborgenen seines finsteren Gemachs jedoch, hatte er sich von kindlichen Launen überwältigen lassen; zum widerholten Male hatte er als Mann geweint.
Doch bald schon hatten sich Zweifel in seinem gesenkten Haupt eingenistet, Zweifel, der mit jedem Peitschenhieb und jedem nächtlichen Besuch anschwoll und in seinen Gedanken zu wuchern begann. Wie konnte diese Pein zum Gerechten führen und weshalb begünstige der himmlische Vater diese unreinen Taten, nur um seinen Glauben immer und immer wieder zu testen, hatte er sich gefragt und war jeden Abend ohne Antwort in seiner kalten Kammer zurückgeblieben. Von der Sorge geplagt, seine aufflammende Ungewissheit würde ihn lediglich weiter in Ungnade fallen lassen, hatte Isaac fortan jede freie Minute dafür geopfert, Ihm die Ehre zu erweisen. Er hatte aufgehört sich zu beschweren und mit dreizehn Jahren waren seine Tränen letztendlich aufgebraucht und vertrocknet; der Mann hatte verlernt zu weinen.
Erneut kontrollierte er den Inhalt seiner Umhängetasche um sicherzustellen, dass er nichts vergessen hatte und um seine Nerven mit einer routinierten Tätigkeit zu beruhigen. Naserümpfend stelle er fest, dass er die falsche Instantsuppe eingepackt hatte, wollte sich aber nicht der Verschwendung bezichtigen lassen und steckte das Päckchen wieder ein. In der Zwischenzeit war es ruhig und kühl geworden und er zog seinen Schal fester. Hinter ihm war der Himmel verwaschen und vom Feuer verfärbt, blutrot verfärbt.
Es war der Morgen nach seinem Geburtstag gewesen, der sein Leben hatte verändern sollen. Er war wie immer früh aufgewacht und hatte Davids rostigen Rollstuhl auf dem Flur vor dem leeren Zimmer gefunden. Die Räder hatten sich noch in der Luft gedreht, als er den Stuhl sorgfältig aufgehoben, seine Finger auf die Klinke gelegt und sie langsam nach unten gedrückt hatte. „Nein“, hatte er entsetzt aufgeschrien, als er die Scham des Abtes erblickt hatte, deren sündige Härte auf seinen hilflosen Freund niederzuschlagen drohte. „Nein! Lassen sie mich an seiner Stelle leiden“, hatte Isaac gebettelt, in verzweifelter Furcht um Davids Wohlergehen, angesichts dessen Unfähigkeit seinen Widerwillen gegen die frevelhafte Opfergabe durchzusetzen. Doch der Abt hatte ihn nicht erhören wollen, hatte weder seiner demütigen Hingabe noch seiner aufopfernden Nächstenliebe Bedeutung zugemessen und schlicht gesagt: „Aber mein Sohn, ihr alle sollt die Ehre erhalten und Buße tun.“ Geschlagen und zutiefst beschämt hatte sich Isaac an diesem Morgen von einem Freund in Not abgewandt. Hin- und her gerissen zwischen der selbst erworbenen Moral und der tief sitzenden Dogma, das eine persönliche Ethik verbot und welches er so sorgfältig gehegt und gepflegt hatte und ihn nun mit Schande belohnt hatte.
Die nächsten Monate waren ins Land gegangen und Isaac hatte den Kampf gegen seine nagende Ungewissheit aufgegeben. Stattdessen frönte er, die Strafe der ewigen Verdammnis ignorierend, seinen wild aufbrodelnden Gedanken, deren religiöse Kandare abgefallen war. Seine Opferbereitschaft war nunmehr zur leeren Hülle geworden, welche dem Beobachter von außen keinen Unterschied preisgab, ähnlich wie das verlassene Exoskelett eines toten Käfers. Er war bereit zu warten, hatte er sich gedacht, doch seine Tage als Sacrificium waren gezählt; zum ersten Male hatte er als Mann Rache geschworen.
Endlich konnte er sich vom Anblick des stetig weiter versiegenden Rinnsals lösen, sich mit beiden Händen auf dem Kies des Flussbetts hochstemmen und sich stolz und ganz und gar als Sünder aufrichten. Mit wachen Augen wandte er sich um und betrachtete sein Werk, die Vollendung seines Plans. Ein Lächeln glitt über seine Lippen, als er sah wie die Festung der Henker und die Scharfrichter selbst den Flammen zum Opfer gereicht wurden. „Hier habt ihr euer Blutopfer“, wisperte er belustigt und schritt mutig ins tiefe Wasser des naheliegenden Sees. Hinter ihm brannte der Altar, er brannte aus.