Schiffe sind nicht mein Ding. Dieses ständige Schwanken, unablässig ist einem schlecht. Trotzdem buche ich jedes Jahr eine neue Reise. Ich bin ehrgeizig. Mein Ziel ist es, von der Landratte zur Bezwingerin meiner eigenen Schwächen zu werden. Leider, das habe ich mittlerweile deutlich erfahren, ist dies keine Frage des Willens.
Die Landratte in mir lässt sich einfach nicht überlisten. Doch muss der Mensch, wie ich finde, seine Grenzen überwinden und seine Fesseln sprengen. Dass es einfach werden würde, hat niemand gesagt.
Jede Schiffsreise ist auf ihre eigene Art eine Prozedur. Jedes Mal hoffe ich wieder, dass es diesmal die Wende bringt.
Dieses Jahr bin ich mit einer Reisegruppe auf der „Van Gogh“ unterwegs. Eine Flusskreuzfahrt mit Landgängen, Rhône und Saône bis hinunter ans Mittelmeer.
Wie so oft bin ich allein unterwegs. Abends treffen sich die Passagiere, in der Regel gruppen- oder paarweise, im Speisesaal. Als Alleinreisende errege ich automatisch Mitleid und so kümmert sich, wie auf allen meinen Reisen, bald das Personal rührend um mich. Über die Jahre hat mir das bereits die eine oder andere Freundschaft eingebracht, die sich lange nach meinen jeweiligen Reisen am Leben erhält.
Auch mit dem Koch hier, Paolo, könnte das so laufen. So etwas spüre ich von der ersten Begegnung an. Er ist Italiener, Sizilianer, so dass alle zwei Tage Nudeln auf der Speisekarte erscheinen, und das nicht zu knapp, so dass am Ende alle trotz der sonst eher übersichtlichen französischen Mahlzeiten satt sind.
Ein interessantes Muster begann sich recht bald abzuzeichnen: Immer dann, wenn ich Paolos Nudeln verkostet hatte, war mir mit einem Mal nicht mehr übel. Die Nudeltage brachten mich meinem Ziel, über mich selbst hinauszuwachsen, also näher. Wäre da nicht der Maître de Cuisine, ein blasser, dürrer Franzose, der so wirkte als hätte er einen Besen verschluckt. Der Maître stand mir im Weg; bestand er doch auf eine überwiegend französische Küche, was mir Paolo mit bedauerndem Schulterzucken erläuterte, nachdem ich einmal gewagt hatte, ihn danach zu fragen. Also musste ich mich mit den Nudeltagen zufriedengeben. Kurze Eintragungen aus meinem Logbuch bestätigten mir den Zusammenhang zwischen den Nudelgerichten und meinem sonstigen Zustand.
Montag: Erste Etappe, Wetter mäßig, Pasta alle Norma, keine besonderen Vorkommnisse, undefinierbares Glücksgefühl.
Dienstag: Windiges bis sonniges Wetter, Poulet Basquaise, gallertartiger Nachtisch. Übelkeit, schwankender Gang, Leichenblässe.
Mittwoch: Durchweg sonnig, Linguine mit Tomaten, Sardinen und Korinthen, Ausflug nach Avignon, Übermut, akute Lebensfreude.
Donnerstag: Noch immer sonnig, Escargots au beurre persillé; Bauchkrämpfe und Melancholie. Landausflug nach Arles, erst auf dem Festland wird mir wohler.
Ich erinnere mich an den Halt der „Van Gogh“ in Arles: Römische Ruinen und eine Hauskatze, zumindest eine an das Haus gebundene Katze, die sich unter einer Holzbank räkelt, an welcher sich der größte Teil der blauen Farbe bereits gelöst hat. Wie wohl sie sich fühlt. Mein Magen indes gibt noch immer merkwürdige Geräusche von sich. Morgen, ich danke diesem Umstand, würde es wieder Nudeln geben. Erneut fiel mein Blick auf die Katze. Ärger stieg nun in mir hoch. Warum konnte es mir denn eigentlich nicht jeden Tag gut gehen? Ich überlegte auf dem Weg zurück zum Schiff, was ich unternehmen könnte, um das zu erreichen. Wie könnte ich den stocksteifen, rigiden Mann von einer Änderung der bisherigen Gewohnheiten überzeugen? Ihn, der so auf die französische Küche setzte? Wäre seine Skepsis mit dem Hinweis darauf, dass meiner Ansicht nach auch die anderen Passagiere an den Nudel-Tagen ein bisschen weniger grünlich im Gesicht wirkten als sonst, zu zerstreuen?
Das zufällige Zusammentreffen mit Paolo auf dem Hinterdeck, auf welchem ich ihm meine Vorschläge unterbreitete, ließen bei ihm nur ein hoffnungsloses Schulterzucken und den Blick eines hilflosen Menschen zurück. Was Paolo nicht vermochte, musste also mir gelingen.
Der Versuch war es mir wert, immerhin würde es mich ans Ziel bringen, könnte ich diesen Hagestolz nur erweichen.
Am nächsten Tag, Freitag, gestärkt von Paolos Trofie al Pesto und ermutigt von gleich zwei der besten Canolli Siciliani, die ich jemals in mich aufgenommen hatte, verließ die gesamte Crew mit uns Touristen die „Van Gogh“, um unter blauem Himmel einen Ausflug nach Aigues Mortes zu unternehmen. Der Maître, unnahbar und bleich, war mitten unter uns. Beiläufig begann ich zunächst ein Gespräch über das Wetter mit ihm. Bereits bei diesem ermüdenden Beginn einer Konversation spürte ich, dass Paolos Resignation eine zutreffende Einschätzung der Situation war. Der Maître würde an der Karte nichts ändern. Berauscht von sich und Bocuse gab es niemanden außer ihm. Mir würde also weiterhin jeden zweiten Tag sterbensschlecht sein. Zwischen den kleinen Gassen und der großen, dunklen Mauer, welche Aigues Mortes auszeichnet, kam mir dann schließlich der rettende Gedanke.
Im Mittelmeer, bei unserem letzten Landgang, direkt nach der im Speiseplan angekündigten Bouillabaisse, würde ich ihn töten. Marseille würde das letzte sein, das er von dieser Welt, zumindest oberhalb des Meeres zu Gesicht bekommen würde. Meine Pläne und weiteren Überlegungen, die diesem Entschluss folgten, mögen auf den Unbeteiligten übertrieben, grausam oder gar unnötig wirken. Was jedoch ständige Übelkeit, der chronische Kampf gegen sich selbst mit einem Menschen machen können, ist nicht zu unterschätzen.
Ich folgte dem Maître bereits jetzt unauffällig, um seine generelle Aufmerksamkeit zu überprüfen, so dass ich diese als Variable in meinen Plan einbeziehen konnte. So blieb ich immer hinter ihm, bis er sich in einer der Nebenstraßen einem abscheulichen Zeitvertreib hingab: Er ließ sich nämlich in einem großen, exponierten Aquarium, in welches er seine nackten Füße gesteckt hatte, die Hornhaut von kleinen Fischen entfernen. Eine durchaus unappetitliche Sache. Die Fische schienen Gefallen an ihm gefunden zu haben, was meiner Überlegung Nachdruck und Kontur verlieh. Ja, er musste sterben, und ich wusste bereits genau, wie das vonstattengehen würde. Die Katze aus Arles kam mir in den Sinn, ihr Räkeln, die offensichtliche Abwesenheit jedweder Übelkeit, kein Zittern in den Gelenken. Welch verführerischer, welch unwiderstehlicher Gedanke! Mein Triumph war nahe. Die Rückfahrt würde eine andere werden, würde mich als völlig verwandelte Person entblättern, transformiert von der Landratte, erblüht hin zu der Frau von Welt, die überall dort zuhause ist, wo sie auch nur ihren Fuß hinzusetzen gedenkt.
Mit diebischer Freude erwarte ich den Moment des nächsten Landgangs und sehne mir zugleich schon den sich daran anschließenden Tag herbei, an dem ich, konnte man der Speisekarte Glauben schenken, Paolos Penne all`Arrabbiata ebenso geschickt vertilgen würde wie eine wahre Sizilianerin.