Jedes Mal, wenn das Schaukelpferd nach vorne kippt, zieht ein leichter Schmerz durch sein linkes Bein. Dabei ist der Krieg jetzt schon zehn Jahre her. Zuvor hatte der Bräuserich einen echten Schaukelstuhl, mit Sitzkissen. Der war weg, als er mit leerem Blick von der letzten Mission nachhause kam, genau wie seine Frau. Fabriziert werden Schaukelstühle heutzutage nicht mehr, weil eine Wirtschaftsstudie behauptet, sie würden den Durchschnittsverdiener zur Faulheit verführen. So sah sich der Bräuserich dazu gezwungen sich als Ersatz jenes Schaukelpferd aus dunkelbraunem Mahagoniholz zuzulegen. Beide waren sie weg, die Frau und der Schaukelstuhl. Wobei letzterer … „Welche Relevanz hat schon ein verdammter …?“, ruft der Bräuserich plötzlich dem vorbeifliegenden Vögelchen zu. Das Vögelchen antwortet erst schüchtern, mit einem leisen Zwitschern, dann mit einer Portion Vogelkot auf dem frisch geputzten Fenster. Bräuserich zieht die Mundwinkel nach unten. So einfach hat das ausgesehen, wenn seine Frau das Fenster putzte. Wenn er das macht, hinterlässt der Schwamm immer so komische Streifen. Alles war einfach, vor der Ankunft des Schaukelpferdes.
Seit dem Ende des Krieges hat er statt seiner Arbeit einen Gehstock. Mit diesem humpelt er morgens zum Tabakladen, hin und wieder in die Bar, zum Lungenarzt und noch seltener in den Park. Als das Automobil verboten wurde, hat man eine der größten Fahrradkreuzungen der Stadt direkt unter seinem Fenster angelegt. Seitdem beobachtet der Bräuserich voller Argwohn die Fahrradfahrer. Zur Klimaerwärmung würde das Automobil beitragen, behauptete der Bürgermeister und schwupp, durfte man es auch nicht mehr benutzen. „Was für ein Papperlapapp …“, grunzte der Bräuserich damals in Richtung des Fernsehers der Bar. Aufgrund seines Gehstocks hat er Schwierigkeiten beim Fahrradfahren. Nur noch körperlich stark eingeschränkte Personen dürfen mit ihrem Automobil die Garage verlassen. Zu denen zählt der Bräuserich nicht, trotz seines Humpelns. Er würde übrigens sagen „Behinderte“, aber auch diese Bezeichnung ist mittlerweile verboten. Ein Stadtpolitiker, der angeblich an chronischem Urlaub leidet, hat „Behindert“ nämlich als Tabu-Wort auserkoren. Der Bräuserich verdächtigt diesen insgeheim der Meinung zu sein, es sei eine Schande nicht den gleichen Körper zu haben wie er selbst. Sonst wäre der doch gar nicht auf so eine Idee gekommen! „Schönrede-Diskriminierung“ nennt der Bräuserich das.
Er selbst fand sich bereits vor dem Richter wieder, da er es gewagt hat jemanden als „rechtsradikal“ zu bezeichnen. „Patriotisch“ heiße das heutzutage. Zuerst bat man ihm zwei Stunden gemeinnützige Sanierungsarbeit an, ausgerechnet auf dem Fahrradweg vor seinem Wohnhaus. Dieser Fahrradweg ist viel breiter als die Fahrradwege, die es zu seiner Kindheit gegeben hat. Breiter noch, als der große Fluss nach dem Hochwasser. Richtig übertrieben findet der Bräuserich das. Außerdem war in diese zwei Stunden das Gefängnismahl nicht inkludiert. Verbrecher haben dieses Glück heutzutage nur noch, wenn die zwei Stunden sich gerade über die Mittagszeit strecken. Das versuchen die Richter zu vermeiden. Um in den Genuss des berüchtigten Gefängnismahls zu kommen, musste der Bräuserich seine Strafe mit allen erdenklichen Mitteln verlängern. So rief er so laut, dass er die Mischmaschine übertönte: „Ich wäre gerne behindert, um mein Automobil zu benutzen! Die Klimaerwärmung ist eine Lüge und Fahrradwege das Werk des Bösen!“ Wie die Verurteilten, hörte das auch der Wärter. Dadurch verwandelten sich die zwei Stunden gemeinnütziger Arbeit sogleich in zwei Wochen. Zwei Wochen auf dem verdammten Fahrradweg – doch gleichzeitig zwei Wochen gratis Mahlzeiten. Der Bräuserich beschloss, sich darüber zu freuen und errechnete, dass er sich so eine Minisolarlampe für seinen Gehstock kaufen konnte. Damit würde er nachts vom Balkon aus die Fahrradfahrer blenden und vielleicht sogar den einen oder anderen zu Fall bringen. Hämisch lachte er damals vor sich hin. Dass dieses Lachen nichts mit Freude zu tun hatte, verstanden die anderen Gesetzesbrecher allerdings nicht. Einer seiner Kollegen, der Tag und Nacht weinte, weshalb der Bräuserich sich Watte in die Ohren stopfte, empfand das hämische Lachen gar als Beleidigung. Es war ein Bankräuber, der selbst seit Jahren keinen Grund mehr zu lachen gefunden hatte. Vor Neid wurde sein Kopf ganz grün, gleich einem Wasserfrosch. Schnell hatte er einen Racheplan parat. Und so geschah es wenige Stunden später, dass man den Bräuserich halluzinierend und mit weißem Schaum vor dem Mund auf dem frisch sanierten Boden der Fahrradkreuzung wiederfand. Rattengift. Jahre zuvor wäre ein Normalsterblicher an einer solchen Dosis mit Sicherheit gestorben. Doch der Magen des Bräuserich hatte sich durch die genetisch veränderten Substanzen in den gegenwärtigen Nahrungsmitteln bereits an jegliche Art von Chemikalien gewöhnt. So lag er schließlich nur zwei weitere Wochen lang im Krankenbett. Dem Bankräuber, der ihn vergiftet hat kann es nur schlechter gehen, wo wir doch wissen, dass der Neid immer zwei Opfer quält.
Schweißgebadete erwacht der Bräuserich im Krankenhaus. Eine piepsende Maschine hat man mithilfe eines Schlauches an seinen rechten Arm angeschlossen. Benommen schaut der Bräuserich um sich. Der Kalender an der Wand zeigt das Datum des 23.Dezember, das Thermometer allerdings 40° im Schatten. Da ist der Bräuserich natürlich überzeugt davon, dass man ihn betäubt hat, den ganzen Winter lang, denn so heiß kann es am Vorabend des Weihnachtsfestes nicht sein. Doch als sich der Bräuserich bei drei verschiedenen Krankenschwestern erkundigt und diese ihm das Datum bestätigen, beginnt er von dieser Idee abzusehen. Der Bürgermeister hat also Recht – den Klimawandel gibt es. Kurz denkt er an sein Automobil, das er seit Jahren nicht mehr aus der Garage geholt hat. „Welche Relevanz hat schon ein verdammtes …?“, ruft der Bräuserich ganz plötzlich. Ein Vögelchen antwortet erst schüchtern, mit einem leisen Zwitschern, dann mit einer Portion Vogelkot auf dem frisch geputzten Fenster. Als sich außer dem, bis über beide Ohren einbandagierten Krankem ihm gegenüber niemand mehr im Raum befindet, zupft der Bräuserich mit einer flinken Bewegung die am Schlauch befestigte Nadel aus seinem Arm. Er erhebt sich. Ein paar Sternchen sieht er dabei vor seinen Augen, weshalb er sich am Bett abstützt. Ob Automobil, oder kein Automobil – man kann es doch auch einfach ins Museum der Vergangenheit stellen, denkt er, während er vorsichtig Schritt für Schritt in Richtung Zimmertür spaziert. Eine gute Investition sei dieses Museum heutzutage, hatte er den Richter sagen hören. Die meisten Leute würden sich auch mehr für die Vergangenheit interessieren als für ihre Zukunft. „Vielleicht lernen sie ja was daraus …“, murmelt der Bräuserich einem anderen, im Gang an ihm vorbeigehenden Patienten zu. Dieser hat schon von dem vergifteten Verbrecher gehört. Erleichtert schickt er ein dankendes Stoßgebet zum Himmel, im Glauben der Bräuserich selbst habe etwas aus seinen Fehlern gelernt und müsse nie wieder vor Gericht antanzen. Der wiederum humpelt zum Lift, drückt nervös auf den Knopf. Bei einer solchen Portion Rattengift müsste er natürlich auf den Befund des Arztes warten, doch dafür hat er wirklich keine Zeit. Im Lift betrachtet er zum ersten Mal seit längerem sein eigenes Gesicht wieder. Eingefallen sind seine Wangen. Ob das auch an der Klimaerwärmung liegt? Er überquert den Fahrradweg, der das Krankenhaus vom Museum trennt, drückt die schwere Doppeltür auf. „Ich möchte Ihnen mein Automobil verkaufen“, sagt er und blickt erst vom Boden auf, als er den Satz zu Ende gesprochen hat. Da erstarrt der Bräuserich mit einem Mal. Die ihm gegenüberstehende Frau tut es ihm gleich. Ein Namensschild trägt sie, wie die Krankenschwester. Ganz so weiß ist ihre Bluse aber nicht, war sie auch vorher nie. „Bräuserich! Ich dachte du wärst im Krieg umgekommen!“ Voller Freude läuft die Frau des Bräuserich hinter dem Tresen hervor, um ihn zu umarmen. Ihm steigen Tränen in die Augen. Als von der Seite ein strenges Räuspern der Chefin kommt, verschwindet Bräuserichs Frau ein wenig perplex dorthin, wo sie hergekommen ist. Schließlich ist was zählt nicht der Mensch, sondern seine Leistung. Zitternd holt sie ein Papier aus einer Schublade hervor und legt es vor dem Bräuserich auf dem Tresen ab. Ihre Hände tragen Falten, die der Bräuserich bisher nicht kannte. Er schaut lange auf das Papier, in das er das Baujahr und andere Zahlen betreffend seines Automobils eintragen soll. Ihr Haar ist jetzt genauso weiß, wie die Krankenschwesternbluse. Elegant, beinahe königlich. „Ich hab‘ dann ein Schaukelpferd gekauft“, sagt er unsicher. Der Kugelschreiber springt währenddessen vor Aufregung in seiner Hand von links nach rechts. „Wie geht es ihm?“, fragt seine Frau unnötigerweise. Der Bräuserich beginnt in seinem weißen Krankenhaushemd nach den Papieren seines Automobils zu suchen, ohne Erfolg. „Im Kamin verbrannt, wie unser Hochzeitsfoto.“ „Oh. Willst du ein neues?“, fragt seine Frau vorsichtig, während sie ihm den tanzenden Kugelschreiber aus der Hand nimmt. „Schaukelpferd?“, fragt der Bräuserich kopfschüttelnd. „Nein, Hochzeitsfoto.“ Sie zeigt den Ansatz eines Lächelns, das aber sofort wieder von der Unsicherheit verdrängt wird.
„Würdest du … ich meine willst du …?“, stottert der Bräuserich überrascht.
„Tu ich. Und du würdest …?“ Die Augen von Bräuserichs Frau funkeln hoffnungsvoll.
„Noch einmal heiraten meinst du?“, fragt der Bräuserich.
„Sicher. Du bist schließlich noch am Leben!“, lacht seine Frau.
„Bin ich das?“
Die Chefin von Bräuserichs Frau protestiert wieder räuspernd, dann hustend, als die beiden lachend das Museum verlassen. Am Ende hustet sie so laut, dass der Sicherheitsmann ihr verwirrt ein Glas Wasser bringt. Noch verwirrter ist er jedoch darüber, die sonst so ernste ältere Empfangsdame so laut lachen zu hören. Er hätte schwören können das sei mittlerweile verboten.