Dies ist der 6. Teil der Fortsetzungsgeschichte „Hoffe auf das Beste, aber bereite dich auf das Schlimmste vor“.
„Wir sind bloß auf der Durchreise“, begann Tess und überlegte sich kurz, ob sie zum Zeichen der Friedlichkeit langsam den Lauf ihres Gewehrs senken sollte, der noch immer zwischen die Augen der Rothaarigen gerichtet war. Sie entschied sich dagegen und versuchte stattdessen im Gesicht ihres Gegenüber abzulesen, was sie sagen sollte. Faktisch gesehen waren sie unerwartet in ihr Gebiet eingedrungen, es war also verständlich, dass ihnen mit Skepsis begegnet wurde und eher unwahrscheinlich, dass die Fremden sie überfallen wollten. Als die unbekannte Frau für einen Sekundenbruchteil scheinbar hilfesuchend wegsah, war Tess überzeugt und fügte rasch hinzu: „Wir haben alles, was wir brauchen und werden euch nichts tun.“ Die Frau zögerte und blieb offensichtlich unsicher, winkte sie dann aber mit ihrer Waffe näher und war sichtbar erleichtert, als Tess ihre schulterte. „Danke“, sagte sie, ehe sie Tess anlächelte und meinte: „Ich hole ihren Freund.“
Kurz darauf stolperte Clint nörgelnd um die Ecke der Waldhütte, währendem ein hagerer Mann hinter ihm herlief und sich pausenlos entschuldigte. „Die haben mich beim Pissen erwischt“, wollte Clint ausholen, doch bevor er weiterreden konnte, fiel Tess ihm ins Wort, denn obwohl sie nicht in akuter Gefahr zu sein schienen, so hatte die rothaarige Frau noch immer ihre Winchester in der Hand und sie wollte sie nicht verärgern. „Man pinkelt auch nicht an fremde Häuser“, lachte sie etwas nervöser als ihr lieb war, woraufhin kurze Stille eintrat.
„Ha!“ Clint, Tess und der dünne Mann zuckten simultan zusammen, als die Fremde zu glucksen begann und endlich ihre Schusswaffe an die Palisade stellte. „Können wir uns darauf einigen, dass wir einander weder erschießen, noch anpinkeln?“, wollte sie noch immer lachend wissen und erntete dafür erst einige verwirrte Blicke, dann einvernehmliches Nicken. „Gut, dann ist das Wichtigste ja geklärt. Holt eure Männer, ihr könnt garantiert einen Happen vertragen, während ihr auf den Rest der Gruppe wartet.“
Etwas in ihrer Stimme verriet Tess, dass die Rothaarige sehr genau wusste, dass sie vorhin geblufft hatte, wahrscheinlich war es ihre entspannte Körperhaltung, die nicht zu jemandem passte, der davon ausging, dass zehn bewaffnete Männer auf dem Weg hierher waren. Und gerade als Tess das verlockende Angebot ablehnen wollte, fügte sie zwinkernd hinzu: „Wenn ihr wollt, könnt ihr einige Tage in unserer Scheune dort hinten bleiben, das Kind ist bestimmt müde.“
Die Scheune, oder besser gesagt die geräumigen Stallungen, waren von der Hitze des Tages noch immer warm, trotz dem großen Loch, das notdürftig über der Feuerstelle aus dem Dach geschlagen worden war. Neben Moira, wie die rothaarige Frau hiess, und dem Typen, der sich geduldig Clints Gemecker angehört hatte und der Professor genannt wurde, waren zwei weitere Männer, eine Frau und drei Kinder anwesend. Tess war sich nicht sicher, inwiefern die neun miteinander befreundet oder verwandt waren und wie sie zusammengefunden hatten. Aber soweit sie das beurteilen konnte, war Moira mit einem der Männer, einem richtigen Hünen, der auf den Namen Rooster hörte, befreundet, zumindest alberten sie vertraut miteinander herum, während die Kinder das Abendessen auf den Tisch trugen. Eine Schüssel nach der anderen wurde vor sie hingestellt und Tess war froh, dass Clint sie erfreut am Arm packte, immerhin wusste sie so, dass sie nicht träumte. Moira hatte ihr Versprechen nicht nur gehalten, sondern übertroffen und ihnen das grösste Abendessen vorgesetzt, das Tess seit Wochen gesehen hatte. Es gab einfach alles: Neben der üblichen Dosennahrung, mit der sie sich, seit das alles angefangen hatte, hatten abfinden müssen, lag sogar frisches Hirschfleisch und knackiges Gemüse aus dem Garten auf dem Tisch. Und als das Festmahl zu Ende war, gab es sogar noch Süßigkeiten für Jack und etwas Alkohol für die Erwachsenen.
„Moira“, begann Clint, klopfte sich auf den vollen Bauch und ließ sich ins weiche Stroh fallen, ehe er anerkennend fortfuhr: „ihr habt das Paradies neu erfunden.“ Wieder lachte die Rothaarige ihr ansteckendes Lachen und für einen kurzen Augenblick kam es Tess so vor, als ob sie wie früher mit Freunden in irgendeiner Bar saß. Sie konnte beinahe die stickige Luft in ihrer Lieblingskneipe riechen und die versauten Witze des Wirtes hören, der nach dem Tod seiner krebskranken Frau immer darum bemüht gewesen war, sich seine Traurigkeit nicht anmerken zu lassen. Doch sie war nicht im McRearys und ihre Freunde saßen nicht kichernd neben ihr, sondern waren mit aller Wahrscheinlichkeit entweder tot oder zu Zombies geworden, also schüttelte sie kräftig den Kopf und zwang sich, der Realität ins Auge zu sehen.
„Ich weiß nicht, wie wir euch jemals danken können“, sagte Tess zu in die Runde und sah kurz den Kindern dabei zu, wie sie Jack in der Scheune herumführten und sich eindeutig viel Mühe gaben, ihn herzlich willkommen zu heißen; sie zeigten ihm ihre Schlafecke und führten ihm erst einige Spielsachen vor, ehe sie ihm einen Koalabären aus Plüsch in die Hand drückten, den er freudig quiekend entgegennahm.
„Leider haben wir nicht viel, das wir euch für eure Gastfreundschaft geben könnten“, fuhr Tess seufzend fort, nachdem sie gedanklich die Inhalte ihrer Rucksäcke nach etwas Wertvollem durchgegangen war, „aber wir werden euch nicht lange zur Last fallen und gleich morgen wieder gehen.“ Clint runzelte sofort seine Stirn und Barbara biss sich besorgt auf die Unterlippe, aber beide blieben still, wussten, dass sie nicht einfach so hierbleiben konnten, auch wenn sie es wollten. Moira hatte die gedrückte Stimmung sicher registriert, nickte aber nur, bevor sie traurig die Augen schloss, so als wollte sie die Enttäuschung in ihren Gesichtern nicht sehen. Natürlich hätte Tess an ihrer Stelle nicht anders gehandelt, immerhin gab es für ihre Gastgeber keinen Grund ihnen zu vertrauen und selbst wenn sie ihnen hätten helfen können, so gäbe es nur mehr Mäuler zu stopfen, wenn sie dableiben würden. Zudem war Tess noch nicht bereit dazu, ihren Plan aufzugeben, erst recht nicht, da sie eine Pilotin dabei hatten.
Doch Clint sah die Sache wie üblich anders und fragte: „Können nicht wenigstens Jack und Barbara hier bleiben?“ Erschrocken blickte Barbara von ihrem Schoß auf und Tess begriff sofort, dass es Clint das Herz zerreißen musste, sich von seinem kleinen Kumpanen zu trennen, aber er wollte nur das Beste für ihn, wollte, dass er in Sicherheit war. Sie machte sich auf eine lange Debatte bereit, auf einen Streit, der darauf hinauslaufen würde, dass Barbara sich zu entscheiden hatte, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass Moira die Bitte würde ausschlagen können. Doch bevor überhaupt jemand hätte darauf antworten können, erhob sich Rooster, so dass er über alle anderen hinausragte, wie ein gigantischer Bär, der sich aufrichtete, um an der Rinde eines Baums zu kratzen. „Sie ist Pilotin“, meinte er tief grummelnd und zeigte dabei auf Barbara.
„Das kommt überhaupt nicht in Frage“, protestierte Helen, die Mutter der drei Kinder, und zog dabei ihren Mann, Mitchel am Ärmel, vermutlich in der Hoffnung, sie könnte ihn so von der Idee abbringen, mit den anderen weiterzuziehen. Es hatte nicht lange gedauert, bis Moira, Rooster und der Professor sich mit Tess‘ Gruppe darauf geeinigt hatten, dass sie zumindest einen Stück des Weges zusammen gehen würden und das obwohl Tess erst nicht begeistert davon gewesen war. Clint hatte wirklich alles versucht, ihr den Gedanken schmackhaft zu machen, doch am Ende war es nicht sein Plädoyer auf den Zusammenhalt der Menschheit gewesen, das sie umgestimmt hatte, sondern die Tatsache, dass Rooster sowie Moira so aussahen, als wären sie verdammt hart im Nehmen und als könnten sie sich als durchaus nützlich erweisen.
„Jetzt sei doch vernünftig Helen, wir sind hier nicht ewig sicher, weißt du denn nicht mehr, was in Greendale passiert ist?“ Stille trat ein und eine Träne lief über das Gesicht der hochgewachsenen Frau. Weder Tess noch Clint oder Barbara brauchten zu erfahren, was in Greendale geschehen war, denn jedem, der bis jetzt überlebt hatte, war klar, was die stummen Tränen bedeuteten. Helen und Mitchell erklärten kurz darauf, dass sie sich noch zwei oder drei Tage wünschen würden, bevor sie aufbrachen, um ihre Kinder darauf vorzubereiten und die anderen willigten verständnisvoll ein.
Später, als die beiden Eltern sich in ihre Schlafecke zurückgezogen hatten und mit wehmütigem Ausdruck ihren Kleinen und Jack etwas vorlasen, saß der Rest noch immer um den langen Tisch, der aus einer, zwischen zwei Werkbänken aufgelegten, Holzplatte bestand und tranken klebrig-süßen Likör. Clint hatte im Professor ein bereitwilliges Opfer für seine wilden Theorien gefunden und spekulierte mit ihm darüber, ob sie aus dem Saft einer Euphorbie so etwas wie Pfefferspray für Zombies würden herstellen können. Naja, wenigstens diskutierten sie nicht mehr über die Vorteile einer hypothetischen Sciencefictionwaffe gegenüber einer anderen, ebenso hypothetischen magischen Waffe, dachte sich Tess und trank den letzten hochprozentigen Schluck aus ihrer Kaffeetasse.
„Ich glaube, ich hau mich aufs Ohr“, verkündete Barbara, die ihr fortgeschrittenes Alter besser verbergen konnte, als es gut für sie war und nie Rücksicht von den anderen erwartet hatte. „So viel Essen und Alkohol bringt sogar dich auf den Boden“, witzelte Tess, bevor sie ihr freundschaftlich auf die Schulter klopfte und ihr eine gute Nacht wünschte. Barbara lachte und wollte gerade zu Jack gehen, der in seinen Schlafsack eingehüllt friedlich vor sich hinträumte, als Moira sagte: „Oh, warte noch kurz, da ist noch etwas, das ihr erfahren solltet.“
„Was denn?“, wollte Tess etwas verunsichert wissen, als sie die Anspannung bemerkte, die sich in Moiras Zügen ausbreitete. „Nun ja, wenn wir bald aufbrechen, müssen Rooster und ich morgen früh noch etwas erledigen, eine…“, sie unterbrach sich und sah zum Professor, der entweder beschämt oder nervös wirkte, ehe sie ihren Satz beendete: „Kleinigkeit besorgen.“ Eine Weile sagte niemand was und obwohl Tess nachhacken wollte, ließ sie es vorerst bleiben, sie wollte nicht ein offensichtlich heikles Thema ansprechen, wenn sie angetrunken war und immerhin würde sie morgen ohnehin als erste aufwachen. Zumindest dafür waren ihre Albträume gut, sie weckten sie wie ein gut geschmiertes Uhrwerk alle zwei Stunden auf.