„Ich erinnere mich noch genau an das Post-It, das zuhause an meinem Bildschirm klebt“, lachte Klaus sarkastisch. „Poseidon-DVD ausleihen für Filmabend mit Anna.“
„Ja, jetzt hast du eine bessere Geschichte, die du ihr erzählen kannst“, entgegnete Brigitte und starrte für einige Zeit auf das weite Meer hinaus, nichts als Wellen unter einem strahlendblauen Himmel. Über ihrem zerrissenen Abendkleid trug sie die Jacke, welche Klaus ihr gegeben hatte, um ihre Arme gegen die unerbittliche Sonne zu schützen – sein Hemd war langärmlig. Schließlich erkundigte sie sich abwesend: „Wer ist diese Anna eigentlich?“
„Du weißt schon, Anna eben“, murmelte Klaus und schien eine Weile zu brauchen, bis er in seinem an ein Delirium grenzenden Zustand begriff: „Ach, Anna, genau.“ Für eine weitere Erklärung war er nicht mehr verfügbar, denn er nuschelte irgendwas von „Mittagsschlaf“ und legte sich kurzerhand in der Ecke des orangen Schlauchboots hin, wo ihm den Rand einen klitzekleinen Schattenstreifen spendete.
„Es ist wohl kaum Mittag, sondern bald Abend“, murrte Daniel, dessen Steward-Uniform schon bessere Tage gesehen hatte. „Nicht, dass irgendwas noch eine Rolle spielt, wir sind mitten auf dem Atlantik und haben bestenfalls für einen Tag Wasserrationen.“
„Sei weniger negativ, das wird sicherlich“, versuchte Brigitte ihn aufzumuntern. „Immerhin haben wir es geschafft, bis heute zu überleben und ich will verflucht sein, wenn wir draufgehen.“
„Stichhaltige Argumentation“, konterte Daniel trocken. „Wir sind die einzigen Überlebenden des ganzen Kreuzfahrtschiffs und obwohl sie seit Tagen nach uns suchen, hat uns keiner gefunden. Wahrscheinlich wirst du also in der Tat verflucht sein.“
„Ach komm schon, du bist fast so grantig wie der Schlangenbeschwörer, der zum Unterhaltungsprogramm gehörte. Na, dem Kerl trauere ich kaum nach, genauso wenig wie seiner Schlange, die hat mir immer eine Gänsehaut bereitet.“
„Könnt ihr mal alle die Klappe halten, bitte?“, lallte Klaus. „Ich habe einen scheiß Sonnenstich und glaube, gleich zu verdursten und ihr labert hier weiter, wie bei einem Kaffeekränzchen!“
„Sorry“, murmelte Brigitte beschämt, während Daniel ihr „Was für ein Waschlappen“ zuflüsterte.
Die Nacht war kalt und der Wellengang beträchtlich, fröstelnd saß Daniel da und hoffte, nicht über Bord gespült zu werden. Er wusste, lange konnten sie kaum mehr durchhalten – ein Tag, vielleicht zwei. Nachdem sie bereits mehr als eine halbe Woche auf offener See herumtrieben und zweifellos nach dem vermissten Vergnügungsschiff gesucht wurde, machte er sich keine große Hoffnung, gefunden zu werden. Das Meer war riesig und sie schipperten in einer orangen Nussschale dahin, viel zu weit abgetrieben und wer weiß wo. „Das ist das einundzwanzigste Jahrhundert und sie können nicht mal ein paar Überlebende in einem Rettungsboot finden?!“
„Das wird schon werden“, ermutigte ihn Brigitte. „Wir schaffen das!“
„Ach, hör endlich auf den Motivationscoach zu spielen, der ist zusammen mit den restlichen Leuten ertrunken, als das Schiff gekentert ist! Die Motivation ist tot, genauso tot wie die fünfhundert Passagiere, verdammt!“
„Leute?“, murmelte Klaus, der sich von seinem Sonnenstich erholt zu haben schien. Erstaunt wandten sich seine beiden Schicksalsgenossen um und Brigitte erkundigte sich: „Was denn?“
„Habt ihr euch eigentlich die letzten Tage auch gefragt, was ihr alles mit eurem Leben hättet anders machen sollen? Das Übliche halt, im Angesicht des Todes und so weiter.“
„Na ja“, überlegte Brigitte, „nicht wirklich. Dafür habe ich die Zierpflanze aus meiner Kabine ständig im Kopf. Ich will unbedingt so eine im Wohnzimmer haben, nur werde ich jetzt kaum herausfinden können, was für ein Pflänzchen das war.“
„Halt mal, Brigitte hat Recht – wir sollten nicht aufgeben, sondern an etwas Positives denken!“, pflichtete ihr Daniel mit neu aufkeimender Zuversicht bei.
„Was soll daran positiv sein, dass ich herausfinden will, wie die Pflanze heißt?“, beschwerte sich Brigitte seufzend. Man konnte im Mondschein ihr Augenrollen erahnen.
„Ihr Deppen geht mir auf den Keks!“, rief Klaus aus und zog ein Japanmesser aus der Tasche, mit dem er, ohne die Klinge auszufahren herumfuchtelte. „Noch mehr von dem Gelaber und ich schneide ein Loch in das verdammte Schlauchboot!“
„Ist ja gut, reg dich ab, Mann!“, versuchte Daniel ihn zu beruhigen und nahm ihm nach einigem guten Zureden das Messer ab. Skeptisch musterte er es, bevor er meinte: „Wieso zeigst du uns das Messer erst jetzt? Hm. Vielleicht kann man damit Fische fangen – irgendwie.“
„Mit einem Japanmesser?“, erkundigte sich Brigitte skeptisch. „Ich glaube eher nicht. Vielleicht schneidest du dich, blutest ins Wasser und lockst einen Hai an.“
„Gibt’s hier etwa Haie?“, wollte Klaus wissen und zuckte dann mit den Schultern. „Ist ja auch egal.“
„Immerhin kann ich mir nun vorstellen, wie gefährlich die Überfahrt für Flüchtlinge ist. Es ist was ganz anderes, wenn man es im Fernsehen sieht, als wenn man selbst auf dem offenen Meer treibt.“
„So ganz dasselbe ist es nicht“, konterte Klaus und machte sich daran, die Denkfehler seines Kameraden in dieser Überlegung zu erläutern.
Während über dem Schlauchboot der Himmel nahezu schwarz war, wurde am Horizont eine Spur der Morgendämmerung erkennbar. Klaus war der Erste, der das Schweigen brach, das lange geherrscht hatte, womit er Brigitte aus ihrem Halbschlaf riss. „Ich denke, bald ist es aus mit uns.“
„Halt, halt, halt, was ist das?“, rief Daniel aufgeregt aus und deutete auf ein entferntes Licht, das sich rasch näherte. „Ist das ein Helikopter?“
„Schnell, die Leuchtrakete, wo ist die Leuchtrakete?“ Die urplötzlich hellwache Brigitte kramte das Ding hervor, bevor sie es abfeuerte. Ein Zischen war zu vernehmen und das Geschoss zeichnete eine rote Spur in die Dunkelheit, als es emporschoss.
„Ich fasse es nicht, wir sind gerettet!“, frohlockte Klaus, als der Helikopter Kurs auf das kleine Boot nahm.
„Moment“, warf Daniel ein, „wir brauchen irgendwas.“
„Hä?“ Brigittes Entgegnung hätte nicht treffender sein können.
Euphorisch erklärte er: „Ihr wisst schon, irgendwas wie einen Pakt, etwas, das wir aus dieser Sache gelernt haben, für uns mitnehmen – die Quintessenz des Schiffbruchs!“
Klaus schnaubte leicht genervt, dann klärte sich seine Mine. „Hey, ich hab’s! Wir schreiben ein Buch, ‚Schiffbruch für Dummies‘, das wäre der große Renner!“
Brigittes Stimme war über das Knattern der Rotorenblätter kaum zu verstehen, genauso wenig wie diejenige von Daniel, doch sie schlugen beide in die dargebotenen Hände ein – es war beschlossene Sache.
Die drei haben sich nach ihrer Rückkehr mehrmals getroffen, wenn man dem Gruppenchat glauben darf, den Brigitte gestartet hatte. Brigitte und Daniel haben sich gar ineinander verliebt und geheiratet, offenbar haben sie bereits ein Kind. Und Klaus lebt irgendwo, irgendwie sein Leben vor sich hin, teilt nicht besonders viel von sich mit, was ich zu schätzen weiß. Das Buch hingegen haben sie niemals geschrieben, sei es, weil sie keine guten Schreiberlinge sind oder weil sie herausgefunden haben, dass kein Markt dafür besteht. Mir würden sie es sowieso nicht erzählen, anscheinend war ich für ihr Geschmack während unserer ganzen Odyssee zu schweigsam gewesen, zu wenig interessiert, die möglicherweise letzten Stunden meines Lebens mit wertlosem Geschwafel zu verbringen. Ich bin sowieso nur aus Höflichkeit mit diesen Spinnern auf Facebook befreundet und ihnen geht es mit mir gestimmt gleich. Ach ja, wer Anna ist, habe ich bis heute nicht herausgefunden – nicht, dass ich mich darum bemüht hätte.