Menschen träumen. Sie träumen von schönen Dingen, von einer rosigen Zukunft oder sie träumen des Nachts wirres Zeug. Manchmal plagen sie Albträume, doch es gibt auch Menschen, die träumen nichts. Nie mehr! Sie sind die Beraubten, die Ausgestoßenen und jeder spürt es, selbst, wenn sie es niemandem erzählen. Etwas Unheimliches haftet an ihnen. Eine unangenehme Leere, die in ihrem Blick liegt, ins Unterbewusstsein ihrer Mitmenschen kriecht und sie rastlos zurücklässt.
Doch die, die heute traumlos sind, waren nicht immer so. Einst flogen ihre Gedanken höher, waren rosaroter und nur selten von Ängsten begleitet. Und dann kam sie … plündernd, raubend, quälend!
Man hatte ihm längst nicht alles gesagt, darüber war er sich im Klaren. Bis vor wenigen Wochen hatte er nicht einmal gewusst, dass es so etwas wie ein internationales Traumdezernat gab. Als ihm sein Dezernatsleiter die Versetzung hin zur Abteilung Träume mitgeteilt hatte, war ihm sein Kaffee aus der Nase gespritzt. Doch sein Chef machte ihm sehr schnell klar: Er meinte es ernst. Dreiundzwanzig Jahre Drogendezernat waren mit einem Fingerschnippen verpufft.
Da stand er also inmitten des gemauerten Altbaus und hielt die Kellerluke mit seinen zitternden Händen offen. Als er in die Tiefe hinabblickte, wehte ihm ein kalter Hauch entgegen. Wispernde Stimmen versuchten ihn zu warnen. Er konnte nicht verstehen, was sie flüsterten, aber die Botschaft war eindeutig: Wenn er sich diese Stufen hinabwagen sollte, würde er das Tageslicht womöglich nie wieder erblicken. Nervös kaute er auf seiner Unterlippe herum. Es half alles nichts. Er brauchte dringend ein paar Punkte auf seinem Karmakonto, auf dem er schon seit langem den Dispokredit überstrapaziert hatte.
Stufe für Stufe setzte er seine turnschuhbewehrten Füße leise knirschend auf. Alle paar Schritte lauschte er ins Dunkel. Nichts.
Er ging alles noch einmal durch, was ihm sein neuer Chef eingetrichtert hatte: „Du musst sie finden und die Träume befreien. Sie ist hochgradig gefährlich! Erwischt sie dich, ist es dein Ende.“
Eine Mannschaft aus einem Dutzend Spitzenleuten hatte das Versteck der Kreatur ausfindig gemacht, analysiert und alle Daten zur Verfügung gestellt, die sie hatten in Erfahrung bringen können.
Aber nun benötigten sie ein Bauernopfer. Jemanden, der zwar gut in seinem Job war, aber ohne den die Welt ansonsten auch ganz gut zurechtkam. An dieser Stelle war er ins Spiel gekommen. Ein Workaholic, der nichts zu verlieren hatte. Beziehungen, Familie und Freundschaften … all das hatte er schon lange hinter sich gelassen. War in eine einsame Welt abgetaucht. Seine Welt, die nur noch aus seinem Job bestand.
Er stieg die letzte Stufe hinab. In die Finsternis dieser Ruine aus unbekannten Zeiten. Die Untersuchungen der Experten hatten keine Ergebnisse geliefert. Das Gemäuer und dessen Entstehungszeitraum waren nicht zu datieren.
Ihm wurde kälter. Das hatten sie ihm vorausgesagt und betont, dass es ganz schnell in eine enorme Hitze umschlagen konnte, wenn sie in die Nähe käme. Eine kleine Beruhigung, zumindest vorgewarnt zu werden, bevor er verloren sein würde.
mit dem Lockmittel hervor. Eine Tinktur aus Mohnsamen, Johanniskraut und Baldrian. Er umklammerte das Fläschchen fest und ging weiter.
Die Gänge waren gespenstisch leer. Spärlich gab die Stirnlampe die Geheimnisse des unterirdischen Verlieses preis. Während seiner Erkundung klebte er kleine Pfeile an die Ecken, bevor er abbog. Leise Geräusche durchbrachen die Stille. Wimmern? Flehen? Ein Rasenmäher?
„Du wirst ihr Nahen an der steigenden Lautstärke erkennen“, hatten sie zu ihm gesagt.
Er schaltete das Schallpegel-Messgerät ein. Die Skala leuchtete hellgrün auf.
Noch immer fror er. Das beruhigte ihn ein wenig. Gerade klebte er einen weiteren Pfeil an die Mauer, als das Messgerät bis ins Orange ausschlug. Kettensägen, Meeresrauschen und ein Schrei, der ihm eine Kerbe in den Gehörgang schlug.
Zögernd folgte er den immer lauter werdenden Tönen. Seine Füße schlurften über den Boden, zogen Schneisen in den uralten Staub.
Der Strahl seiner Stirnlampe verlor sich in der Tiefe des Ganges. In immer kürzeren Abständen reihten sich Türen aneinander. Jede war anders. Massives Eichenholz, Pressspan, gestrichenes Metall, Glas, eckig, mit Rundbögen … so ging es ewig weiter.
Er schlich an ihnen vorüber. Kleine Wölkchen seines Atems stiegen empor. Die Luft wurde wieder kälter. Vorsichtig lauschte er an einer Pressspantür. Ein leises Plätschern. Bald erreichte er eine Glaspforte. Als er hindurchblickte, gefror ihm beinahe das Blut in den Adern.
Ein feister Mann saß in der Dunkelheit auf einem unsichtbaren Stuhl. Vor sich einen großen Aluminiumtopf, daneben ein Kiloglas Nutella. Sein linkes Bein reichte nicht bis auf den Boden. Man konnte einen offenen Bruch an der Wade erkennen. Unappetitlich. Der Mann verschwand mit dem halben Gesicht im Topf. Als er wieder hervorkam, kratzte er sich am Kopf, packte seine Wade, riss den Unterschenkelknochen schmatzend heraus und rührte damit den Inhalt des Gefäßes um.
Ein vertrauter Geruch erfüllte den Gang. Es roch nach indischen Gewürzen. Chicken Vindaloo! Sein Leibgericht. Doch was tat der Mann da? Er kippte die rote Sauce in das halb gefüllte Nutellaglas, stellte es in eine bis dato verborgene Mikrowelle und rieb sich den Bauch.
Sie hatten ihn darauf vorbereitet absonderliche Dinge zu sehen, aber das hätte er sich in seinem hitzigsten Fiebertraum nicht ausmalen können.
Mit flauem Gefühl ging er weiter. Vor einer grün angestrichenen Tür mit rundem Kristallglasfenster blieb er erneut stehen. Dahinter bog sich eine Trauerweide in die schwärzeste Leere eines Sumpfes hinein. Das Wasser begann zu brodeln und ein schneeweißes Pferd tauchte auf. Schlamm perlte von der goldenen Mähne. Es schnaubte leise und versank wieder. Die Weide zog ihre Äste aus dem Tümpel. An einem hing ein edelsteinbesetztes ägyptisches Kreuz, ein Ankh.
Gerade begann er sich zu fragen, was das alles bedeuten sollte, als das Pferd mit einem Satz gegen die Tür sprang. Blut spritze, das Kelpie hing kurz darauf stranguliert an einer Mumienbandage, die aus dem Ankh zu kommen schien. Der ungeheuerliche Schrecken ließ ihn zurücktaumeln. Er hätte mit dem Rücken an die gegenüberliegende Wand stoßen sollen, doch der Wiederstand blieb aus.
Immer weiter stolperte er nach hinten, konnte nicht stoppen. Er begann zu schwitzen, ihm wurde heiß. Aus der Höhe seiner Hüfte konnte er ein rotes Leuchten erkennen. Der Schallpegel-Messer schlug aus, obwohl er nichts hörte.
Dann, endlich, fiel er zu Boden. Am liebsten hätte er sich die Klamotten vom Leib gerissen, doch er konnte sich nicht bewegen, konnte nichts sehen. Finsternis.
Ein leises Wispern schreckte ihn auf. Oder war es ein Lachen? Ein bitterböses Lachen, voller Hohn und Spott!
Es kam von überall, er konnte es nicht lokalisieren. Als es zu unvorstellbarer Lautstärke angeschwollen war, verstummte das Geräusch und ließ eine absolute Leere zurück.
Minuten später spürte er seine Gliedmaßen wieder. „Jetzt oder nie!“, dachte er, rappelte sich auf und leerte den Rucksack. Eine Wasserflasche rollte heraus, ein Topf krachte scheppernd zu Boden. Das Wasser in den Kochtopf mit dem Mohnsamen und dem Hefeextrakt hinein. Dann auf den Campingkocher. Er hatte seine Zweifel daran, dass diese Apparatur funktionieren würde. Bevor er die Flamme entzündete, zog er sich die Gasmaske über, wie befohlen. Er versprühte den Lockstoff.
Die Temperatur stieg weiter und das lag nicht an der kleinen Gasflamme.
Jetzt hieß es warten. Warten in der Dunkelheit. Kein Lufthauch, kein Geräusch, außer dem monotonen Röcheln des Kochers, auf dem der Topf stand. Angespannt lauschte er ins Nichts. Das Geräusch seines Atems durch die Gasmaske begann anzuschwellen.
Einatmen, Ausatmen, Einatmen …
Sie hatten ihn gewarnt: Was immer du tust, du darfst auf keinen Fall einschlafen! Zu spät …
War dies sein Kinderzimmer? Die hellblau-weiß gestreifte Tapete, die Vorhänge mit den Zügen und die Stofftiersammlung auf der Kommode. Eindeutig, aber was machte er hier?
Langsam richtete er sich auf. Hell schien die Sonne durch das geöffnete Fenster und wärmte seine Beine, die unter der Dinosaurierbettdecke steckten. Es roch nach Kakao. Würde nun gleich seine Mutter herein kommen? Vorfreude stieg in ihm auf. Er wollte sich zur Tür umdrehen, doch sein Hals schien wie gelähmt. Mühsam musste er seinen ganzen Oberkörper wenden, doch auch das verursachte brennende Schmerzen.
Bloß im Augenwinkel konnte er die Zimmertür erkennen. Sie stand offen, doch etwas stimmte nicht. Der viereckige Rahmen war nicht viereckig. In unregelmäßigen Abständen säumten dunkle Ritzen die sonst makellose Tür.
Hatten die Ritzen sich bewegt? Tatsächlich schienen sie sich zu winden und näher zu kriechen. Wie Tentakel die nach etwas suchten. Verängstigt schloss er die Augen. Als er sie wieder öffnete stand eine Frau vor ihm. Sie unterschied sich in jeglichen Aspekten von seiner Mutter, war hoch gewachsen und würdevoll. Schwarze Haare, blasse Haut. Ein langer dunkler Mantel hing von ihren schmalen Schultern.
„W… wer sind Sie?“, fragte er mit bebender Stimme.
„Deine Traumfrau!“, antwortete sie und ein wohlig warmes Gefühl breitete sich in seinem Innern aus. Er nickte mit leicht geöffnetem Mund.
„Dies ist dein letzter Traum“, fügte sie hinzu. Ihr Mantel begann sich zu bewegen, als würden hundert Schlangen darunter umherkriechen.
„Mein letzter?“, flüsterte er erschrocken und dann besann er sich. Er wurde sich seiner Aufgabe wieder bewusst, kannte seine Situation und wollte aufbegehren, doch die Tentakel krochen schon aus dem Mantel, um seinen Hals, um seinen Körper, in seine Ohren und seinen Mund. Ihm stockte der Atem, er rang nach Luft. Röcheln, Gurgeln, Tränen …
Ein ohrenbetäubender Knall zerriss die Dunkelheit, schrille, an Kreissägen erinnernde Schreie hallten von den Wänden wider. Tausend Nadelstiche schlugen in seine Gesichtshaut ein. Der Kochtopf mit den Schlafmohnsamen war explodiert. Mit seinem letzten Gedanken zog er die verrutschte Gasmaske wieder vor seinen Mund. Feiner Nebel verteilte den Traumsand in den Katakomben.
Feuer mit Feuer bekämpfen. So hatte sich das Traumdezernat ausgedrückt. Man kann sie nur mit Träumen vernichten! Einen inneren Kreis erschaffen, in dem sie ihre eigenen Träume aussaugt und sich somit selbst kompostiert.
Es roch nach Brennpaste und frischgebackenem Mohnkuchen. Die Stirnlampe war unbrauchbar. Er tappte sprichwörtlich im Dunkeln. Es war still und roch nach Blut. Seine Kräfte verließen ihn und er schloss seine Augen.
War dies sein Kinderzimmer? Die hellblau-weiß gestreifte Tapete, die Vorhänge mit den Zügen und die Stofftiersammlung auf der Kommode. Eindeutig, aber was machte er hier?
„Entschuldige bitte vielmals mein Missgeschick“, empfing ihn eine sanfte weibliche Stimme. „Willkommen in deinem wirklich letzten Traum.“
Tentakel in Ohren, Nase, Mund …