Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Warnung: Diese Kurzgeschichte enthält Szenen, die auf einige Leser beunruhigend wirken könnten. Mehr zu unseren Warnungen sowie wann und weshalb wir sie anwenden, erfahrt ihr in unseren FAQ.
Ihr goldenes Haar fällt wie ein Tuch aus Seide über ihren zierlichen Nacken, endet zwischen ihren Schulterblättern und schenkt dem spätnachmittäglichen Sonnenglühen eine surreale Spiegelfläche. Sie trägt schlichte hellblaue Jeans und einen cremefarbenen Sommerpullover, der sich kaum von ihrer hellen, beinahe durchlässigen Haut absetzt und sie bleibt unberührt vom frischen, salzigen Wind der See, welcher vor der nahtlosen Fensterfront über das tiefschwarze Wasser tobt. Währendem sie durch ihre Smaragdaugen auf die weiße, makellose Wand starrt, beobachte ich sie aus dem Hintergrund, studiere ihren schmalen Rücken. Sie hat keinen Namen, doch ihr Gesicht reflektiert die Welt; sie ist der Mond.
Ich lausche dem scharfen Zischen des Vorschlaghammers, als er neben mir die Luft durchschneidet und genieße sein Gewicht, das an meinen Armen reißt, bevor sie beinahe geräuschlos zu Boden gleitet. Für einen Sekundenbruchteil blitzen blanke Knochenfragmente auf und werden sogleich von einem überwältigenden Strom aus hellem, flüssigen Blut weggeschwemmt. Ihr Fleisch ist rosa und mit jedem meiner kraftvollen Schläge steigt ein Nebel aus winzigen roten Tropfen empor und setzt sich auf dem harten Stahlboden nieder. Wie in Trance mache ich weiter, solange, bis ihr Antlitz für immer verschwindet und ich versteinere. Träume ich?
Nachdem ich endlich aufgewacht bin, wische ich mir den kalten Schweiß von der Stirn und taste im dunkeln Echo der eisigen Kajüte nach dem Lichtschalter. Mein Fieber scheint gesunken zu sein, denn die Lichtblitze, die vor meinem Traum durch mein Sichtfeld tanzten, haben mich verlassen. Gedankenverloren begrüße ich meine Kammeraden, als ich die Kombüse des Flugzeugträgers betrete und ich bin zu erschöpft um zu bemerken, dass mir niemand antwortet. Der staubige Duft des Schwarztees steigt in meine Nase, kitzelt meinen Verstand wach und erinnert mich an eine Zeit, einen Ort, die lange hinter mir liegen.
Bin ich wach? Meine Beine fühlen sich so an, als würde Feuer durch meinen Blutkreislauf fließen, doch das Adrenalin lässt den Schmerz dumpf verhallen und gibt mir die Kraft weiter zu rennen und die Hoffnung, meinem unsichtbaren Verfolger trotz allem entkommen zu können. Im Quartier der Deckarbeiter stolpere ich über etwas, verfalle in rasende, wütende Panik. Mein Körper reagiert instinktiv und als die Beleuchtung zu flackern beginnt, stehe ich wieder aufrecht und kämpfe gegen das wiederhallende, hämische Lachen, welches sich seit jenem Tag, an dem alles begonnen hatte, in meinem Geist über mich lustig macht. Als ein weit entferntes Klicken erklingt, erkenne ich meine Hand, die zitternd auf dem Wecker liegt und mein Magen dreht sich. „Bin ich wach?“ frage ich mich, als ich das Erbrochene auf meiner Brust betrachte und trotz meiner Bewegungsunfähigkeit die weiche Matratze unter mir fühlen kann.
Weil ich meinen Kugelschreiber nicht finden kann, greife ich einen Stift aus der Farbschachtel. Der letzte Eintrag liegt nur einen Tag zurück, aber mir kommt es so vor, als wären seither bereits Jahre verstrichen und ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie es war, nicht alleine, blockiert, ja beinahe paralysiert zu sein. So wie immer verbringe ich meine wachen Minuten damit, auf dem verwitterten Deck, direkt neben dem kleinen Kran, an dem die Rettungsboote befestigt gewesen waren, zu sitzen und mein Glück mit der Angel zu testen, doch es gibt schon lange keine Fische mehr. Später werde ich meine übliche Runde drehen und jeden verlassenen Raum inspizieren – im vergeblichen Glauben, die nun unsinnig gewordene Routine würde meinen Verstand zusammenhalten – bevor ich in den Vorratsraum schlendere und…
Wir stehen in einem losen Kreis und warten darauf, dass jemand das sagt, was wir alle denken. Der Kapitän, einst ein gut gebauter Soldat, sieht aus als hätte er das Bewusstsein verloren und würde nur noch von einem transparenten Gebilde aus Fäden und Drähten aufrecht gehalten. Baumann war der erste von uns, der den Strapazen erlegen war und wir haben seinen fahlen, grauen Körper in unsere Flagge gewickelt, bevor wir ihn in der See übergaben. Samuel war der nächste und er schmeckte versalzen. Vielleicht war es aufrichtige Reue, vielleicht auch nur dummer Aberglaube, der uns jedes Mal hier hin trieb und uns dazu zwang, unserer Tat beim Gebet in die Augen zu sehen. „Gott, wir bitten um Vergebung“, beginnt der erste Maat die Andacht, währendem sich das raue Rauschen der Wellen, dieses stetige, rhythmische Dröhnen in meinen Gedanken einnistet, mich erstarren lässt und daran hindert, wegzudriften und zu vergessen wo ich bin. Bin ich tatsächlich wach?
Süße Fäulnis schlägt mir entgegen, als ich den Vorratsraum öffne und ich hoffe, dass ich meiner Krankheit erliege bevor mein Überlebenstrieb mich wieder zum Essen zwingt, bevor das Lachen wieder zurückkehrt. Er war gerade mal neunzehn Jahre alt, ein Kind und ich habe seine sehnigen Arme und einen Teil des muskulösen Fleisches aus seinem Rücken unter dem letzten Rest Salz begraben. Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, schlage ich die Tür hinter mir zu und lege mich neben seinen blutleeren, aufgerissenen Torso, umarme ihn fest und hoffe, dass das Salz meine Tränen aufsaugt, sie einfach verschluckt. Ich will träumen, will endgültig und für immer versteinern.
Der grüne Stift kratzt über die letzten Seiten des Logbuchs und ich bin mir sicher, dass niemand diese Zeilen jemals lesen wird; wie die Fische sind wahrscheinlich auch die Menschen vergangen; eine ganze Rasse reduziert auf eine verschwindende Nachkommastelle ihrer einstigen Grösse. Mir ist bewusst, dass keine Rettung kommen wird und bin froh darüber, dass ich nicht für diejenigen Taten gerichtet werde, zu denen mich mein Drang zum Überleben getrieben hat. Morgen, da bin ich mir sicher, werde ich aufwachen.