Das Auto parkte direkt vor dem Haus. Es war in Karminrot gehalten, leuchtend wie eh und je. Nur an manchen Stellen waren kleine Kratzer zu sehen. Laura wusste, es würde der Geruch nach alten Zigarren und nassem Hund auf sie warten. So ekelig das klang, der Käfer war auch voller Erinnerungen. Wie eine schwere Last lagen diese nun auf ihren Schultern, während die junge Frau auf den Rücksitz kletterte. Es gab keine Gurte. Dieses Auto war das einzige, das ohne Gurte auf der Rückbank noch fahren durfte. Auf der Lehne ganz links war noch immer ihr Kinderhandabdruck, den sie dort vor vielen Jahren mit einem Permanent-Marker nachgemalt hatte. Kaum war die Tür zugefallen, schien es, als drehte sich Lauras Großvater grinsend vom Fahrersitz zu ihr um: „Halt dich fest, wir düsen los!“ Stattdessen stiegen ihre Eltern ein. Frische Luft vertrieb für einen Moment das Bild und vor allem den penetranten Geruch.
„Alles okay?“, fragte Lauras Mutter mit einem besorgten Blick auf die Tränen in den Augen ihrer Tochter. „Wir fahren zu einem Begräbnis. Da ist es normal, dass absolut gar nichts in Ordnung ist“, murmelte sie wie ein verbissener Teenager, dabei legte sie ihren Kopf auf die Rückbank. Kein Gurt – keine Regeln. Ihre Mama sah sie voller Verständnis an, brachte es aber nicht über sich, etwas zu sagen.
Der Käfer hüpfte die Straßen entlang. Trotz der Winterkälte hatten sie das einzige Fenster, das noch zu öffnen möglich war, hinunter gekurbelt, um dem Gestank zu entkommen – vielleicht auch, damit das Fahrtgeräusch laut genug war und sie ohne Schuldgefühle schweigen durften. Laura hatte ihren Mantel wie eine Decke um ihren schlanken Körper geschlungen. Eine Haube verdeckte ihre wilden, roten Locken. Ihr Gesicht hatte sie mit einem Schal verpackt, um warm zu bleiben.
Ihr Opa hatte immer gemeint: „Wer ist hier alt? Du oder ich?“ Vergnügt hatte Laura gelacht, wenn er mit seinen kurzen Rocker-T-Shirts durch den Schnee gestapft war, während sie im Wintermantel mit dicken Stiefeln zugesehen hatte.
Die Beerdigung hatte einiges an Aufwand bedeutet. So viele Verwandte waren fortgezogen, wollten trotzdem kommen. Einen Termin zu finden, jeden Einzelnen überhaupt einmal zu verständigen – Lauras Mutter hatte seit Wochen kaum geschlafen und heute, heute sollte alles vorbei sein. Sie würden sich verabschieden, einander in den Armen halten, endlich nach vorne blicken können.
Das unregelmäßige Schaukeln, das laute Geräusch der rollenden Reifen und die Wärme, die sich langsam unter dem dicken Wintermantel ausbreitete, machten Laura schläfrig. Die Trauer hatte auch sie viele Nächte wach gehalten. Nun wollte sie loslassen. Beinahe zwei Stunden Fahrt lagen vor ihnen. Ihre Mutter hatte darauf bestanden, mit dem alten Käfer ihres Vaters zu seiner Beerdigung zu fahren – trotz des Geruchs, trotz der Flecken, der Kälte. Es war ihr wichtig gewesen.
Einmal hatte ihr Opa Laura in diesem Auto den ganzen Tag herumkutschiert. Sie hatten Mozzarella-Sandwiches gegessen – die Hälfte auf die Sitze gepatzt – waren immer der Sonne entgegen gefahren, egal wo sie gerade gestanden hatte. Beide hatten zu den Liedern aus dem Autoradio mitgesungen. Laura war noch zu klein gewesen, um die Texte zu verstehen, da hatte ihr Opa gelacht und gelacht und gelacht – in Lauras Erinnerung war er immer vergnügt mit einem dicken Grinsen im Gesicht.
Zu ihrer Schulabschlussfeier hatte sich Laura das Auto ausgeborgt, war mit ihren Freundinnen darin vorgefahren. Sie hatten in der Nacht darauf mit Pizza auf der Rückbank gefeiert. Es war eng gewesen, aber für diesen Moment einfach perfekt. War es wirklich schon zehn Jahre her?
Auf dieser Rückbank, überlegte Laura, genau hier war mein erster Kuss, genau hier habe ich Opa davon erzählt.
Lauras Tränen blieben zu Beginn unter ihrem dicken Schal verborgen. Schließlich versiegten sie, als sich die Lider schlossen und sie in einen unruhigen Schlaf fiel.
Ihr Opa war da, das Käferauto auch – sie fuhren durch einen Wald. „Was meinst du, sollen wir die Schmetterlinge jagen gehen?“, fragte er verschmitzt. Doch dann verblasste das Bild von ihm, die junge Frau selbst saß am Steuer. Sie fuhr darauf los, zwischen den Bäumen hindurch, suchte den einen Schmetterling, der ihrem Opa am besten gefiel. Der Käfer sauste zwischen den Stämmen hindurch, rumpelte über Wurzeln. Ohne Warnung war der Sprit alle.
Laura stieg aus. Es war gar kein Wald mehr, es war die Baumschule, auf der ihre Oma gearbeitet hatte. Sie wird schimpfen, wenn sie sieht, dass ich mit dem Auto die Setzlinge zerstört habe, dachte Laura. Die Rothaarige sah sich um, konnte keine einzige Spur ihrer wilden Fahrt entdecken.
Aus dem Nichts flog ihr ein Schmetterling entgegen. „Warte“, schrie sie, „warte!“ Jetzt war sie ein kleines Mädchen, das dem Insekt nachlief und es schließlich zwischen ihren hohlen Händen einfing. Vorsichtig öffnete es seine kleinen Kinderfinger – der Schmetterling war fort. „Du bist wohl auch lieber frei“, meinte das Mädchen. Vor ihm tauchte erneut sein Großvater auf: „Es ist jetzt Zeit, nach Hause zu fahren“, mahnte er.
„Laura, wir sind da“, flüsterte die Mutter, gleichzeitig schüttelte sie den Mantelhaufen, unter dem ihre Tochter schlief. Mit einem Mal war Laura leichter ums Herz. Sie setzte sich auf. Ihre Finger waren kalt gefroren, ihr Gesicht fühlte sich ein wenig taub an, aber ihre Schultern waren frei. Sie sog ein letztes Mal den Geruch nach Zigarren und nassem Hund ein, betrachtete den Handabdruck an der Rückenlehne. Mit einem tiefen Seufzer stieg sie aus dem Auto. Es war vorbei, sie würde sich verabschieden, nach vorne blicken, endlich wieder nach Hause fahren, ihr Leben leben und vielleicht einmal mit ihren eigenen Enkeln auf Schmetterlingsjagd gehen.
Bin begeistert. Viola ist eine begnadete Jung-Autorin und ich kann ihren Reiseblog und ihre Bilder auf Instagram nur empfehlen! Ich bin mir sicher, dass man von Viola noch einiges hören wird!