„Guten Morgen“, sagt er zur Pusteblume. „Guten Morgen, der Tag ist schön.“ Ja, das ist er. Zwei Sonnen scheinen auf sein winziges Reich hernieder, in unmessbarer Ferne leuchten Milliarden fremde Himmelskörper, einige funkeln heiter, ab und an verzückt. Wie er hier gelandet ist, ist einer Meisterleistung der Wissenschaft zu verdanken, manche würden es Missgeschick nennen, alle anderen Magie. So ist es mit der Technologie, je undurchschaubarer sie ist, desto näher rückt sie in ihrem Wesen an Zauberei. Sei es wie es sei, nun ist er da und wird es auch bleiben, auf seinem eigenen Asteroid zwischen den Sternen.
„Ganz wunderbar, dieser Tag“, stimmt ihm die Pusteblume zu und nickt ihr Haupt vor, zurück und, weil es so lustig kitzelt, gleich noch nach links und rechts. Ein Sämchen bricht ab, schwebt empor und verschwindet ins All. „Wie gestern.“
„Und vorgestern“, meint er und betrachtet traurig lächelnd den davonfliegenden Samen, schaut dann betrübt auf seine Ringelsocken, aus deren Löchern rosa Zehen hervorblitzen. Nur drei Fusselchen verbleiben auf dem Köpfchen seiner besten Freundin, kahl ist sie geworden. „Und vorgestern.“
„Ob morgen ebenso schön wird?“, will das Blümchen wissen, wartet mit gespannt gestrecktem Stiel darauf, dass er ihm Antwort gibt. In solchen Momentan kann er die goldgelbe Aura erahnen, die Blütenblätter beinahe sehen, die nach und nach auf den Boden gefallen waren.
„Bestimmt. Und übermorgen sowieso.“ Unschöne, gar elende Tage gibt es nicht, bloß solche, die ihre Schönheit ein bisschen zu gut verstecken, sie unter Wehmut und Einfallslosigkeit vergraben. Trotzdem entdeckt er sie stets, naja, fast. Regeln sind fabelhafter Dünger für Ausnahmen. Aber meistens reicht meistens aus und so ziehen meistens schöne Tage an ihm vorbei. Sie bringen Licht, Wärme und Fantasie auf seine klitzekleine Welt, die ohne Halt und Halten durch den Kosmos rauscht.
„Überübermorgen …“ Tief in Gedanken neigt sich die Pusteblume zur Seite, ein welkes Blättchen bleibt auf der Erde liegen, matt verdeckt es ein, zwei hellblaue Steinchen. Die Oberfläche ihres Heims ist rau und lose, als hätte man Blaukraut durch eine Käsereibe geraspelt und zusammen mit dem Inhalt vom Katzenklo zu einem mehr oder weniger festen Klumpen geformt und in den luftleeren Raum geschossen. „Glaubst du, überübermorgen wird auch schön?“ Sorge ist in seinem dünnen Stimmchen zu hören. Das Blümchen weiß, und er weiß, was der Tag nach dem morgigen und dem übermorgigen für sie bereithält. Es ist der Fluch, den alle denkenden, fühlenden Geschöpfe teilen, egal wo und wann sie in diesem unendlich riesigen Universum leben, gelebt haben oder leben werden.
„Natürlich“, beginnt er in Eile, will seine Gefährtin auf der nie endenden Weltraumreise nicht in einsamer Stille hängen lassen. „Natürlich, natürlich.“ Es dauert seine Zeit, bis seine Mühe um Fröhlichkeit sich auszahlt, da huscht ein Schmunzeln über sein Gesicht in Richtung der Augen, wo es Feuer fängt und zu einem breiten Grinsen heranlodert. „Natürlich, ja, natürlich wird überübermorgen auch schön!“
„Sicher?“ Argwohn steht der Pusteblume schlecht, daher schüttelt sie ihn sogleich ab und trällert: „Du hast recht, überübermorgen wird schön. So schön wie heute, morgen und übermorgen. Vielleicht sogar noch schöner, das kann man nie wissen.“
„Nein, das kann man nie.“ Er hatte versucht, die Tage länger zu machen, am Rad der Maschinerie zu drehen und das Unausweichliche ein kleines Stück, womöglich ein großes, in die Zukunft zu verbannen. Doch mit jeder verlängerten Minute des einen, verlor der nächste Tag eine. Irgendwann waren die Tage so kurz geworden, so unfassbar flüchtig, dass der Morgen als Abend erwachte. Wer die Zukunft fürchtet, verliert das Jetzt, das war die simple Lehre seines Wahns.
„Wohin gehen sie, meine Pustelocken?“, fragt die Pusteblume und wackelt mit ihren drei Fusselchen auf dem Kopf, als die Sonnen untergehen, ihren taumelnden Asteroiden in gleißendes Magentaorange färben. „Suchen sie ein neues Zuhause?“
„Ich weiß es nicht, niemand kann das wissen“, erklärt er und scheucht einmal mehr die Tristesse aus seinem Herzen. Er nimmt sich vor, den letzten Samen seiner geliebten Blume in den Himmel zu pusten. Wenn die Vorsehung es will, wird er auf fruchtbares Land treffen. Eine Weile sinniert er dem Schicksal hinterher, was ist es, außer einem Namen, dem man dem Zufall gibt, wenn dieser zu gewaltig, zu furchteinflößend erscheint? „Das einzige, das wir wissen ist, dass sie eines Tages gehen. Egal ob heute, morgen, übermorgen oder überübermorgen, gehen müssen sie alle, ob Sämchen, Blumen, Elefanten, Eichhörnchen oder Schlangen. So war es schon immer.“
„Das ist in Ordnung.“ Das Blümchen richtet sich auf, langt mit seinem schlaffen Blättchen zu seinem Fuß und streicht sanft über seinen Knöchel. „So war es schon immer und so ist es in Ordnung. Hauptsache heute ist ein schöner Tag, alles andere soll heute keine Rolle spielen.“ Manchmal wird der Fluch zum Segen, ja, ohne Vergänglichkeit wäre es ein wahrer Kraftakt, Vergnüglichkeit im Sein zu finden. Eine Anstrengung, die ihm gar zu bekannt ist.
„Und wann gehst du?“
„Auch das weiß niemand, mein liebstes Blümchen. Seit Äonen bin ich Zeuge der Geschichte, bin der Astronaut, der längst vergessen hat, woher er gekommen ist. Soweit ich mich erinnern kann, war ich da und vermutlich werde ich so lange da sein, bis ich mich nicht mehr erinnere.“ Schlussendlich, das ist sein Trost, geht es allen gleich. „Aber heute, das kann ich dir versprechen, ist ein schöner Tag.“