Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Seit mehr als achtundvierzig Jahren stand Hans jeden Tag um halb fünf Uhr auf, ging ins Badezimmer, saß dort ein Weilchen im Halbschlaf auf der Toilette, wusch sich das Gesicht und trottete danach in die Wohnküche, wo er den Herd anmachte, um Kaffee zu kochen. Das Ritual hatte sich nie geändert, bloß die Zeit, die er zum Pinkeln benötigte, war etwas länger geworden, aber das war einem Mann seines Alters nachzusehen. Auch heute saß Hans wieder gähnend auf seiner abgewetzten Eckbank und trank Schluck um Schuck, während er die Zeitung von gestern las. Es machte ihm nichts aus, dem aktuellen Weltgeschehen stets einen Tag hinterherzuhinken. Kleine Unannehmlichkeiten wie diese nahm er gerne in Kauf, denn Hans liebte die frühen Morgenstunden, genauso wie sein abgeschiedenes Häuschen, das zwischen einer uralten Bahnlinie und einer engen Landstraße eingeklemmt dem Fortschritt trotzte.
Die Kuckucksuhr schlug Fünf und der kurze Alte wischte hurtig die letzten Krümel seines Marmeladenbrotes zusammen, faltete die Zeitung und rappelte sich unter der Arthritis ächzend auf. Ein Blick aus dem Fenster ließ ihn die Nase rümpfen. Seit gut einer Woche hatte die Sonne sich im Talkessel nicht sehen lassen und so schnappte sich Hans seinen gelben Regenhut und zog seine Sicherheitsweste über den Regenmantel.
Er war schon bei der Wohnungstür gewesen und hatte den Schlüssel gedreht, als ihm einfiel, dass er beinahe das Wichtigste vergessen hätte. So rasch ihn seine morschen Beine trugen, marschierte er zurück in die Küche und fischte eine Flasche Bananenmilch zwischen Eistee und Medikamenten hervor. Die Milch war etwas teuer, das einzige Markenprodukt, das er sich leistete und seine Mutter würde sich sicher im Grab umdrehen, wenn sie wüsste, für welchen Unsinn Hans sein Geld zum Fenster hinausschmiss. Vielleicht schmeckte ihm die Bananenmilch gerade deswegen so gut.
Der Weg von seiner Wohnung zum Arbeitsplatz war nicht weit, bloß vom ersten Stock die knarrende Treppe runter, danach einmal um die Hausecke herum. Das Wärterhäuschen hatte sich, genauso wie Hans, in den letzten achtundvierzig Jahren kaum verändert. Etwas spröder war es geworden und die Bibliothek, die ihn zwischen zwei Zügen unterhalten sollte, war ein klein wenig gewachsen. In der Mitte des Regals stand noch immer die „Kurze Anleitung zur Erlernung der Morsezeichen“ aus dem Jahr 1933. Hans hatte das Heft seit Ewigkeiten nicht mehr in die Hand genommen, aber er behielt es aus sentimentalen Gründen. Damals, als er sich nach der Lehre bei der Bahn um die Stelle als Schrankenwärter beworben hatte, waren die Durchfahrten nämlich über den Telegraphen angekündigt worden und dieses braune Heftchen hatte ihm bei der Einstellungsprüfung die Haut gerettet. Wenn er es sich recht überlegte, waren diese Seiten eine Analogie seines gesamten Lebens, sie waren dünn, einfach und ein wenig in die Jahre gekommen.
Aus reiner Gewohnheit wartete Hans geduldig, bis der Sekundenzeiger zur nächsten Minute sprang, dann drehte er die Einheits-Schrankenwinde in die richtige Position. Das alte Dinge taugte schon lange zu nichts mehr, war es doch in den Sechzigern durch eine moderne Automatikschranke ersetzt worden. Hans mochte Veränderungen nicht sehr und so kurbelte er noch heute pünktlich.
Um fünf Uhr dreizehn, mit einer halben Minute Verspätung, ratterte der Pendlerzug vorbei. Hans sah ihm eine Weile hinterher, bis er um die Kurve verschwunden war, setzte sich dann auf seinen Ohrensessel und zündete seine Pfeife an. Wie alles andere, tat er auch das nur aus Liebe zum Brauch und weniger deshalb, weil er wirklich rauchen wollte. Der Tabak bekam ihm nicht, aber dafür gab es ja Bananenmilch, um den scheusslichen Geschmack im Mund wieder loszuwerden.
Hans war eingenickt, die Routine weckte ihn dennoch rechtzeitig vor dem nächsten Zug. Er erhob sich, schlenderte durch den winzigen Raum, sah auf die Uhr und kurbelte. Der Zehn-Uhr-Zweiunddreißiger war mal wieder zu spät, wohl weil die Touristen ihre Bagage nicht schnell genug vom Bahnsteig in den Gepäckraum verfrachtet hatten. Hans schüttelte den Kopf und fuhr sich durchs graue Haar. Er sollte vermutlich zum Coiffeur, sinnierte er, als er die strähnigen Locken durch seine Finger zog, denn wenn es eines gab, auf das er Wert legte, war es ein ordentlicher Haarschnitt. Ganz im Gegensatz zu seinem Neffen, der mit langer Mähne und nackten Käsefüßen durch die Gegend rannte. Erneut schüttelte er den Kopf und brummte verächtlich, obwohl ihn niemand hören konnte: „Blöde Hippies!“
Unentschlossen, ob er sich vor dem Zehn-Uhr-Vierunddreißiger nochmal hinsetzen sollte, lehnte sich Hans ans Fensterbrett und sah dem sanft rauschenden Fluss zu, der neben der Bahnstrecke das Tal hinunter floss. Früher waren oft Fischer vorbeigekommen und hatten schweigsam und beständig ihr Glück versucht, aber das war längst Vergangenheit. Seit Langem verirrte sich niemand mehr auf diesen Flecken Erde, selbst die Straße war kaum befahren. Hans gab abwechselnd dem Wirtschaftsaufschwung oder der Flaute die Schuld, je nachdem, was am Vortag in den Zeitungen geschrieben wurde.
Als die große Bahnhofsuhr, die Hans vor Jahrzehnten von seiner Schwester Rosa zu seinem Dreißigsten bekommen hatte, zwölf Uhr anzeigte, schob er sein Buch zurück ins Regal und stemmte die Hände in seine Hüften. Hans fand es noch immer etwas seltsam, sein Wärterhäuschen zur Mittagspause zu verlassen. Es war ein bisschen so, wie mit der Bananenmilch, ein Luxus, der vermutlich nie so ganz zur Gewohnheit werden würde, den er sich aber trotzdem leisten wollte. Es regnete beharrlich weiter, Hans verzichtete allerdings auf seinen Regenhut und warf sich lediglich seine Weste über die Schultern. Ein bisschen Kälte, so war er überzeugt, hatte noch nie jemandem geschadet und er hatte sich fest vorgenommen, auf seine alten Tage nicht vollends zu verweichlichen.
Gerade als er die Klinke herunterdrücken wollte, klingelte das Wandtelefon. Erschrocken verharrte Hans, wusste nicht so recht, wie er auf das helle Läuten reagieren sollte, hatte er es doch schon ewig nicht mehr gehört.
„Schrankenposten 48, Ruppert am Apparat“, meldete er sich, nachdem er schmatzend den klebrigen Speichel von der Spange seiner Dritten entfernt hatte.
„Hallo, hier ist Huber vom Schrottplatz Heide. Ich rufe an weil …“ Hans‘ schwaches Herz zersprang fast. Ohne Herrn Huber ausreden zu lassen, knallte er den Hörer auf die Gabel und blieb danach erstarrt davor stehen.
„Dieses Lumpenpack!“, brüllte der Rentner durch sein kleines Wärterhäuschen und schlug mit seiner knöcherigen Faust an die Wand. „Wie können sie es wagen?!“
Dieses Häuschen, diese zwei Geleise und die verwitterte Schranke waren alles, was Hans etwas bedeutete, alles, das zwischen den Buchdeckeln seines Lebens geschrieben stand. Er war damit stets zufrieden gewesen, wenn auch nicht glücklich, nichtsdestotrotz hatte er seine Arbeit stets zuverlässig erledigt, sogar nachdem die Bahnlinie modernisiert und er obsolet geworden war. Seit achtunddreißig Jahren hatte Hans jede wache Stunde dieser einen Schranke gewidmet, bei jedem Wetter, am Wochenende und selbst an den Feiertagen und nun wollten sie kommen und sie einfach so mitnehmen, verschrotten.
Seine Finger schmerzten, nicht bloß vom Schlag gegen die Wand, als Hans über die brüchige Haut seiner Wangen strich. Er wusste, der Moment war gekommen. Ohne nochmals nach oben zu gehen und dort das Stück Käse mit Brot zu essen, das er sich für heute Mittag aufgespart hatte, trank Hans den Rest seiner Bananenmilch aus und öffnete dann den schmalen Holzschrank, in dem er seine Flinte aufbewahrte. Egal wie, er würde seine Schranke verteidigen.
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