„Es war an einem lieblichen Frühlingsmorgen“, beginnt so manche Geschichte, diese jedoch nicht. Nein, denn der Morgen, an dem Stieg Schoyen seinen heimatlichen Schuppen in der Parklandschaft hinter Schiøtz’ Vei verließ, war alles andere als lieblich. Sauverhagelt, rabenduster und hundskalt war er, und wenn man es ganz genau nehmen wollte, dann war es bereits Vormittag, statt Morgen. Stieg war kein Morgenmuffel per se, er war vom Aufstehen bis zum Zubettgehen von grantigem Gemüt, einer, dem nichts je gelegen kam. Mit Ausnahme von Schorsch Schulz, dem kleinen Katerchen, der allergisch auf Mäuse war. Ihn hatte er im Schober zurückgelassen, die kränkliche Katze war ungeeignet für diese lange Reise, soviel war klar. „So ein Mist“, motzte Stieg unwirsch. „Es ist zum Kackhaufen durch die Gegend karren.“ Einige mittelalte Fichten waren dem Sturm von neulich Nacht zum Opfer gefallen, angeknackt, kreuz, quer und traurig lagen sie nun auf dem Pfad, verwandelten den Waldweg in eine Kletterpartie. Weder rechts, links noch unterhalb war ein Durchkommen möglich. Das Gestrüpp zu dicht, die Böschung zu steil, der Restschnee zu hoch, der Boden zu matschig und unsicher – immer und überall gab es unüberwindbare Hindernisse für Stieg und seine ausgetragenen Fellstiefel. „Köttelkotze!“, knurrte er und legte sich bäuchlings auf den ersten der umgekippten Stämme, hob den Hintern in die Höhe und wackelte mit den Füssen in der Luft. Er war kein sonderlich graziler Mann, ging stets ein wenig gebückt, seine Hände hinter dem Rücken verschränkt und seine unzähligen Talismane, die er um seinen Hals und an seiner Kleidung befestigt mit sich führte, klimperten bei jedem Schritt. Als es ihm endlich gelang, die Beine über den Baumstamm zu schwingen, entwich ihm erst ein erleichtertes, beim Anblick des nächsten, dickeren Baums, ein missmutiges Grunzen. „Was für ein dampfender Haufen Holzsplitter!“
„Guten Tag“, flötete ein Stimmchen und eine hagere Frau trippelte ihm entgegen. Sie reichte Stieg gerade mal bis zu den Brustwarzen, war so dürr, ein leiser Furz hätte sie wegwehen können. Ihre silbergrauen Haare hatte sie streng zusammengebunden, ein winziger Dutt thronte exakt in der Mitte wie ein Stecknadelkopf. Sie mit gerümpfter Nase beäugend, nickte er zum Gruß, hoffte, sie würde schweigend an ihm vorbeiziehen.
„Ein schöner Tag, um im Wald zu fluchen“, verkündete sie freundlich grinsend, ohne jegliche Spur von Spott oder Missfallen.
„Die Bäume“, nuschelte Stieg und klopfte Rinde und Moos von seinem Tweed Ruana, der löchrigen Decke, die er über seinem Wintermantel und dem Reiserucksack trug. „Sie liegen im Weg.“
„Sie liegen auf dem Weg“, korrigierte sie, wandte sich dem Holz zu, sprang hoch und landete mit nur einem Versuch mit dem Po auf dem Stamm.
„Im Weg, auf dem Weg – da gibt es keinen Unterschied.“ Ihr offenes Lächeln ärgerte ihn maßlos. Wie kam sie sie dazu, diese ekelhafte Unannehmlichkeit kleinreden zu wollen? „Sie stören“, murrte er auf die Bäume deutend, meinte allerdings die Dame.
„Na, wenn Sie das so sehen.“ Damit streckte sie ihre Beinchen hoch, drehte sich um und verschwand hinter dem Baumstamm, lediglich das silberne Bällchen auf ihrem Haupt lugte dahinter hervor, erinnerte ihn an eine Murmel. Davon hatte sie vermutlich nicht mehr alle beisammen, niemand, der bei Sinnen war, konnte so fröhlich die die Welt zotteln. „Auf Wiedersehen.“
„Jaja“, brummte er, nahm Anlauf und warf sich auf den nächsten Baum.
„Es war an einem milden Frühlingsabend“, könnte unsere Geschichte weitergehen, aber bei Stieg Schoyen lief das Leben kaum je milde, geschweige denn märchenhaft. Einige Stunden später saß er rittlings auf dem letzten der Bäume und knabberte an einem Stück harten Lebkuchens, den er von Weihnachten übrighatte. Eigentlich war der erste Zwischenstopp in Jernbanedamman bei Hommelvik geplant gewesen, wenigstens bis nach Sveberghallen hatte er es vor dem Abendessen schaffen wollen. Leider verdarben die verwehten Bäume sein Vorhaben und sein leerer Ranzen nahm ihm das viele Hüpfen und Über-Rinde-Rutschen übel. Also sah er sich gezwungen, seinen Proviant im Waldstück nahe der heimischen Hütte anzubrechen. „Eine scheiß Schande ist es“, verwünschte Stieg den unwillkommenen Unterbruch und damit sich selbst gleich mit. „Eine Schande.“ Wahrscheinlich hätte er es besser wissen müssen, er war nicht länger der kraftstrotzende Aussteiger von einst, der stramme Soldat war zum Schrat geworden, stand sich oft selbst im Weg. Ächzend betrachtete er seine Fingerspitzen, die Kuppen waren eingedrückt, die Handinnenflächen weich und fleckig – er war auf direktem Weg ins hohe Alter. „Hundertzehn Kilometer“, murmelte er vor sich hin, als ein bekannter Haarball in sein Sichtfeld geschoben wurde.
„Guten Abend.“ Sie trug eine Tasche, die beinahe so groß war, wie sie selbst, sie hatte sich die Stoffhenkel einige Male um den Unterarm gewickelt, trotzdem schleifte die Tüte über den Waldboden. „Haben Sie sich mit den Bäumen angefreundet?“ Ihre wohlwollende Miene hatte sich nicht verändert, sie strahlte ihn regelrecht an, was Stieg dazu veranlasste, die Lippen verächtlich zu verziehen. „Ich nehme an, nicht.“
„Nein.“ Er stich sich die Krümel aus dem Bart, ehe er seinen Snack im Außenfach des Rucksacks verstaute. „Sie haben mich viel Zeit gekostet. Ich werde zu spät in Schweden sein.“ Das ganze Unterfangen, die Strecke zu Fuß zu meistern, war beschwerlicher, als er in Erinnerung hatte.
„Sie wollen zu Fuß bis Schweden?“, fragte die magere Frau entgeistert.
„Es war in einer gemütlichen Frühlingsnacht“, würde die Geschichte langsam zu Ende gehen und tatsächlich hatte sich Stieg Schoyens Schicksal etwas gewendet. Die Dame war ein Stück mit ihm gegangen, seine Route läge ohnehin auf ihrem Weg, wie sie beteuerte. Nun hockte er in eine gehäkelte Decke gewickelt in ihrem Wohnzimmer und trank Ingwertee mit Zimt und Orangenschnitzen drin. Auch ihr Häuschen war auf dem Weg gelegen, wie es der Zufall eben so wollte, und sie hatte ihn zu sich eingeladen, um die kalten Stunden unter einem Dach zu verbringen.
„Na also, so ist es besser.“ Sie seufzte zufrieden und tätschelte die Katze, die auf ihrem Schoß zusammengerollt schnurrte. „Schweden, also?“
„Ja. Schweden.“ Stieg war ahnungslos und verblüfft, wie es der seltsamen Schrulle gelungen war, ihn von dem Übernachtungsbesuch zu überzeugen – bestimmt lag es an seiner Müdigkeit, der Wehmut über sein schleichend fortschreitendes Alter oder daran, dass sie ihm versprochen hatte, nicht mehr zu reden, wenn er mitkam.
„Wieso Schweden?“, brach sie ihr Versprechen und plapperte munter weiter. „Was ist in Schweden, für das man über hundert Kilometer zu Fuß überwinden will?“
„Meine Tochter“, gab er erstaunt über seine eigene Redseligkeit zurück und nahm sofort einen ordentlichen Schluck Tee. „Sie lebt in Storlien.“
„Ach, Familie.“ Die schwarze Kätzin gähnte, erhob sich und nahm einen Satz auf das Beistelltischchen, dann auf seine Oberschenkel. „Gibt es keinen Zug nach Schweden? Einen Bus vielleicht?“
„Mein Erspartes ist für das Katzenhotel für meinen Kater draufgegangen“, erklärte Stieg bereitwillig. Das samtige Tier, die Wärme des Tees und die unnachgiebig nette Art seines Gegenübers lullten ihn ein. „Sein Name ist Schorsch Schulz.“
„Da macht also der Kater Schorsch Schulz Urlaub im Hotel, während sein Herrchen in kaputten Schuhen nach Schweden marschieren will?“ Ihr witziger Dutt wackelte hin und her, als sie leise kicherte. „Wie wäre es, wenn ich Sie morgen früh einfach mitnehme?“
„Mitnehmen“, sagte er abwesend, streichelte die Katze, sog den Zimtgeruch ein und wandte sich ihr plötzlich erschrocken zu. „Mitnehmen?“
„Ja. Ich fahre nach Järpen zu meinem Sohn. Storlien liegt auf dem Weg.“