Selbstfindung

Symmetrie. Wunderbare, herrliche Symmetrie, die seine Nerven ein klein wenig zu beruhigen vermochte. Sicherlich war er nicht deswegen hierhergekommen, umso mehr freute er sich über die prächtige Oase der Ordnung in diesem Chaos, das er die letzten Wochen zu ertragen hatte. Der weiße Marmor, welcher in mattem Hellgrau mit den Schönwetterwolken zu verschmelzen schien war sauber, rein und tröstete ihn über die bunt zusammengewürfelten Besuchermaßen hinweg. Selbst der Garten um den Taj Mahal war makellos gepflegt, die Bäumchen standen in schnurgeraden Linien Spalier, getrimmt, genauso wie der Rasen. Mit etwas Glück könnte er hierbleiben statt zurück ins Aschram zu fahren.
„Kommst du?“ Ja, hierzubleiben wäre in der Tat eine schöne Idee, dachte er, seine Frau überhörend. „Gerhard, kommst du endlich?“
„Wie?“ Ihm war, als hätte sich ihre Stimme in den letzten Jahren von betörend sanft zu herrscherisch rau verwandelt. Eine Illusion, ihre Stimme war dieselbe geblieben, wenn sich auch ihr Wesen verändert hatte.
„Jetzt mach hin, Gerhard!“, keifte sie unbeirrt weiter und wedelte, um ihrer Ungeduld Nachdruck zu verleihen mit ihrer rosafarbenen Bauchtasche, deren Gurt ihres ständig wachsenden Umfangs seit mindestens vier Jahren nicht mehr gewachsen war. Im Gegensatz zum Persönlichkeitswandel gefiel Gerhard der schlaffer und breiter gewordene Körper seiner Frau. Er hatte es ihr tausendmal gesagt, ihr liebevoll ins Ohr geflüstert, wie schön er sie fand, ihr mit aller Ernsthaftigkeit versichert, sie wäre für ihn die Venus, hatte es ihr hinterhergeschrien und rhythmisch vorgestöhnt. Sie kaufte es ihm nicht ab, also gab er irgendwann auf. Soll sie sich doch hässlich fühlen, nörgelte Gerhard innerlich, bevor er sich mit einem erzwungenen Lächeln auf den Lippen in Bewegung setzte.
„Der Bus fährt in weniger als einer Stunde“, stellte sie augenrollend fest, riss ihm die Baseballkappe vom Schädel und entblößte damit seine wenigen verbleibenden Haarsträhnen vor der ganzen Touristenmeute. Seine Haare waren ihm unheimlich peinlich, so wie ihr der Bauch, die Beine ja gar der Po. Gerhard vermisste die Zeit, als sein Haupt im Licht blond schimmerte, sie durch seine Locken strich und damit spielte. Sie vermisste die Haare ebenfalls und scheute sich nicht davor, ihm das mitzuteilen. „Du siehst mal wieder aus, als hätte dich ein Kamel ausgespuckt!“
„Können wir noch etwas warten?“ Eine Frage konnte nicht schaden, glaubte er, wenn er wenigstens eine kurze Weile in dieser wundervollen Symmetrie bleiben dürfte, nähme er sogar in Kauf, neben ihr auf einer schmalen Bank zu sitzen. Normalerweise suchte er ihre Nähe, ihr Bedürfnis nach Abstand wuchs hingegen mit jedem Zentimeter, den ihre Hüften zunahmen. Nur leider beinhaltete ihr Selbstfindungstrip in Indien die lokale Küche, an deren Knoblauch- und Gewürzgehalt Gerhard sich einfach nicht gewöhnen konnte. „Bis zum Bus sind es knappe dreihundert Meter.“ Trotz ihren nie enden wollenden Beschwerden über den Zustand ihrer einst schlanken sowie seiner früher trainierten Beine, war eine Stunde Marschzeit übertrieben.
„Was willst du hier denn noch?“ Sie war alleine ihm zuliebe mit zum Taj Mahal gekommen. Verständlich, wenn sie sich ärgerte, immerhin ging es für sie nicht um die Besichtigung von Sehenswürdigkeiten, sonnenverbrannten Engländern und lauten Amerikanern, sondern darum, ihren inneren Frieden zu finden. Außerdem sprach sie kein Englisch, sodass sie stets fürchtete, die Touristen würden über ihre Figur lachen, was sie tatsächlich sehr selten taten. Den inneren Frieden fände sie bestimmt nicht zwischen Souvenirläden, antiker Baukunst und Taschendieben. Für Gerhard war allerdings unklar, weshalb sie diesen geistigen Schatz im verschwitzten Aschram oder unter dem Gestank des Marktes vermutete. Wieso konnte sie nicht zu Hause auf der Kirmes suchen, dort stank es ebenfalls und singende, selbstgefällige Leute gab es auch. Wahrscheinlich verstand er etwas Fundamentales nicht und war deswegen oft ratlos, was ihre Bedürfnisse anbelangte, zumindest erklärte er es sich so.
„Ich finde es hier schön“, murmelte er wenig zuversichtlich. Ihm war, als begäbe er sich ohne nach Links und Rechts zu sehen auf den unbewachten Niveauübergang einer vielbefahrenen Bahnstrecke. Es war reine Zufallssache, ob er die richtigen Worte fand, sicher auf die andere Seite der Konversation kam oder ob sie seine Hoffnung auf einen längeren Aufenthalt mit der Wucht einer Dampflok zertrümmerte.
„Na gut.“ Sie seufzte, sah aber wenigstens davon ab, mit seinen Plänen zu kollidieren. „Dafür kommst du heute mit meinen Freunden und mir zum Essen.“ Ein Wermutstropfen gab es immer, sinnierte Gerhard nickend. Sie waren nun schon einige Wochen hier und es grenzte eigentlich an ein Wunder, wie oft er es bisher hatte vermeiden können, mit nationalen Spezialitäten gefüttert zu werden. Die Kochstelle ihrer neuen Freunde erinnerte ihn trotz des fehlenden Fleisches stets an einen Schlachthof. In diesem Szenario war er war der pedantische Pathologe, der mit Mundmaske und Desinfektionsmittel Ordnung ins Chaos bringen wollte, die anderen diejenigen, die fröhlich mit bloßen Händen in den Innereien spielten.
„Natürlich, Schatz“, erwiderte Gerhard gelassen. Ein Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht, als sie sich auf den Platz neben ihm zwängte. Er rückte etwas zur Seite, denn mindestens die Hälfte einer ihrer Arschbacken hing von der Bank, dann legte er den Arm um seine in bunte Tücher gehüllte Frau.
„Hast du gestern das Kreuz gemacht?“, erkundigte sie sich leise, kaum hatte sie ihren Kopf an seine Schulter gelehnt. So zu sitzen war fürchterlich unbequem, es war viel zu heiß. Sie roch nach Knoblauch, er nach Schweiß und sie beide waren zu dick, alt und wohl auch zu hässlich, um einen schönen Hintergrund auf den Ferienfotos Fremder abzugeben.
„Nein, noch nicht.“ Sie hatte sein Geheimnis direkt nach ihrer Ankunft entdeckt, war ihm wenige Stunden böse gewesen und es ihm dann knurrend erlaubt, jeden überstandenen Tag in Indien in seinem Kalender durchzustreichen. Er war keineswegs missgünstig, dass ihr Selbstfindungstrip vor dem seinen stattfand. Sein Wunschausflug in die irische Wildnis, respektive zu den irischen Destillieren, konnte gut und gerne noch ein Jahr warten. Gerhard gönnte seiner Liebsten jeden Augenblick an diesem farbenfrohen Flecken Erde, nur anfreunden konnte er sich damit nicht. So freute er sich stets, wenn ein Urlaubstag vergangen und eine Nacht weniger zwischen ihm und der Heimreise stand. „Ich war gestern Abend schrecklich müde. Bin sofort eingeschlafen.“
Sie lachte hell auf, so wie sie das früher oft gemacht hatte, damals, als ihre Hüften schmaler und der Bauch flach gewesen war. Heute lachte sie bloß, wenn es wirklich etwas zum Lachen gab und davon schien es hier außergewöhnlich viel zu geben. Vielleicht war es der knallbunte Sari, den sie in einem Touristengeschäft gekauft hatte und dessen Stoffbahnen ihre vermeintlichen Problemzonen verdeckte, oder aber die Tatsache, weit weg vom alltäglichen Leben die Hitze zu genießen. Nun gut, Gerhard genoss sie nicht, sie hingegen wurde mit jedem Grad über fünfundzwanzig aufgeweckter.
„Pass auf, sonst denke ich noch, dir gefällt es hier“, feixte sie, ihren seltsam neuen Körpergeruch in sein Gesicht blasend. „Am Ende willst du gar nicht mehr heimfahren.“
„Das bezweifle ich“, gab er ein klein wenig mürrisch zurück.
„Ach, du Miesepeter. Hier gibt es so viele tolle Dinge, die man entdecken kann.“ Sie stupste ihm mit dem Ellenbogen in die Seite und deutete dann auf das imposante Bauwerk am Ende des ordentlichen Gartens. „Auch wenn es blöde Touristenattraktionen sind.“
„Quatsch“, murmelte Gerhard für sich, ehe er sich ihr zuwandte, ihr einen spontanen Kuss auf das strahlende Grinsen gab und dann meinte: „Für mich gibt es hier nur etwas, das ich immer wieder aufs Neue entdecken will.“

Autorin: Rahel
Setting: Taj Mahal
Clues: Pathologe, Niveauübergang, Kalender, Kirmes, Innereien
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