Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Im Alter von sechs Jahren, hatte Gunter die grandiose Idee gehabt, sein Frühstück mit einer Gabel aus dem Toaster herauszufischen; dank der Sicherung hatte er den Vorfall mit leichten Verbrennungen überlebt.
„Shit!“ Ächzend versuchte er das große Einmachglas auf seinen behandschuhten Finger zu balancieren, scheiterte aber, so dass der Samen-Container mit einem lauten Scheppern auf dem Boden aufschlug und das Plastiksiegel absprang. Frustriert kickte er gegen das deckenhohe Kellerregal, das gefährlich ins Wanken geriet, bevor er sich bückte, um das verunglückte Glas zu inspizieren und erneut zu versiegeln. „Man sollte meinen, es gäbe genügend Geld für anständige Regale“, murmelte er genervt und sah sich kurz in dem kahlen Tresorraum um. „Ein Gang durch die Dekoabteilung hätte auch nicht geschadet“, sinnierte er und bemerkte dabei nicht, wie die schwere Tür hinter ihm ins Schloss fiel.
Als er Neun gewesen war, war er bei dem Versuch einen Regenwurm vom Angelhacken zu retten, beinahe in dem eiskalten Teich hinter dem Haus ertrunken; zum Glück war Vater McDowell, der ehemalige Schwimmtrainer und Priester seines Internats, sofort zur Stelle gewesen.
Entnervt lehnte er sich auf dem Bürostuhl zurück, entledigte sich seiner Handschuhe und verharrte kurz, bevor er eilig damit begann, den letzten Logbucheintrag der Woche zu schreiben. Gunter gefiel das abgeschiedene Leben hier, mitten im Arktischen Ozean, hatte er doch nirgends sonst so viel Anschluss zu gleichgesinnten Wissenschaftlern und er war stolz auf seine Arbeit, denn er war überzeugt, dass der Weltweite Saatgut-Tresor irgendwann eine entscheidende Rolle im Überleben der Menschheit spielen würde. Trotzdem, manchmal gab es eben Tage, die nicht schnell genug vorbeigehen konnten und heute war so einer. Sobald er alle Formalitäten erledigt hätte und Tresorraum-1 für die Montagsschicht vorbereitet war, würde er hier alles stehen und liegen lassen, sich Zuhause endlich ein Bier gönnen und den Svalbardposten lesen. Bis dahin aber tippte er fleißig die Archivnummern der heute neu eingegangenen Samen aus Sri Lanka ein und kaute abwesend auf seinem ausgelutschten Kaugummi herum.
Kurz nachdem die Sommerferien vor der sechsten Klasse begonnen hatten, hatte Gunter beinahe das Zeitliche gesegnet, weil er mit seinem neuen Mountainbike unbedingt über eine selbstgebastelte Hängebrücke hatte fahren wollen; die Ärzte hatten die Platzwunden genäht, und zu ihrem Erstaunen hatte das Schädelhirntrauma keine signifikanten Auswirkungen auf die Neuroplastizität seines Broca-Areals.
„So“, brummte Gunter und stellte diesem Ausdruck der Erleichterung ein langgezogenes Gähnen nach. Gewissenhaft ging er noch einmal durch den unterirdischen Raum, um sicherzugehen, dass er an alles gedacht hatte, fuhr den Computer herunter und kramte die wenigen Sachen zusammen, die er auf dem Weg nach draußen noch im Betriebsbüro vorbeibringen wollte. Gut gelaunt lockerte er seinen Schal etwas, drückte die Klinke nach unten und lehnte sich gegen die stählerne Tresortür, die sich aber keinen Millimeter bewegen wollte. „Shit“, fluchte er erneut und ging davon aus, dass die Scharniere mal wieder vereist waren, wurde dann aber nervös, als auch das Enteisungsspray nicht helfen wollte.
Gunter verpasste seinen Abschlussball, weil er das Handbuch seines Verstärkers nicht hatte finden können, diesen aber dennoch hatte reparieren wollen; zu seinem Glück hatte er nur wenig Rauch inhaliert und die Versicherung war davon ausgegangen, dass die maroden Stromleitungen für den Brand verantwortlich gewesen waren.
Ungeduldig lauschte er dem Freizeichen, währendem er, soweit es das Kabel des internen Telefons erlaubte, vor dem Schreibtisch auf und ab stapfte. „Komm schon!“, drängelte er und wollte für weitere fünfzehn Minuten nicht einsehen, dass bereits alle Mitarbeiter ihren Feierabend genossen. Langsam aber stetig wurde ihm bewusst, dass er wahrscheinlich vor Montagfrüh nicht hier rauskommen würde und er fragte sich, weshalb die Kälte, die dafür sorgen sollte, dass die hier gelagerten Samen lange haltbar blieben, ausgerechnet jetzt durch seinen Arbeitsanzug kroch. Wider besseren Wissens schmulte Gunter auf den Thermostat, der in fröhlichen gelben Lettern verkündete: „-18°C“. Beunruhigt zog er seinen Schal wieder fester um seinen Hals und legte den Hörer resigniert auf die Gabel. „Scheiß Permafrost“, flüsterte er, währendem er sich nachdenklich auf seinen Bürostuhl setzte und verzweifelt versuchte, in den unordentlichen Schubladen etwas zu finden, dass ihn aus seiner Misere befreien könnte.
Währendem seine Frau im Kreissaal gelegen hatte und Gunter eine Tochter schenkte, war dieser mit seinem Rollstuhl, an welchen er wegen eines dummen Ausrutschers in der Badewanne vorübergehend gefesselt gewesen war, die lange Steintreppe hinuntergefahren; vorteilhafterweise war es die Krankenhaustreppe gewesen, so dass man seine offenen Knochenbrüche umgehend hatte operieren können.
Zitternd hatte sich Gunter unter dem Schreibtisch ein behelfsmäßiges Nachtlager aus seiner gletschertauglichen Arbeitsmontur und einer vergessenen Wolldecke gebastelt und saß nun mit gefrorenen Haaren und Augenbrauen da und gab die Hoffnung nicht auf, dass irgendjemand ans Telefon gehen würde. Der Computer verriet ihm, dass es bereits weit nach Mitternacht war und vermutlich waren diejenigen, die noch nicht in ihren warmen Betten lagen, im einzigen Pub der Forschungsanstalt und betranken sich dort um das Wochenende einzuläuten. „Verflucht“, hörte er seine heisere Stimme und wusste sofort, dass er, sollte er nicht bald hier rauskommen, mindestens eine Lungenentzündung davontragen würde. „Es darf nicht wahr sein!“, brüskierte er sich gedanklich. „So soll es also mit mir zu Ende gehen?“
Letzte Woche, bei einem geselligen Betriebsausflug seiner Forschungsgruppe, wäre Gunter beinahe ums Leben gekommen, weil er es für richtig gehalten hatte, die Schlittenhunde etwas zu verwöhnen und nicht daran gedacht hatte, dass sich auch Eisbären für seine Dosenravioli interessieren könnten; er war ganz schön erschrocken, als er den Leiter gesehen hatte, der mit einer gezogenen Flinte auf ihn zugerannt war.
Um sich wach zu halten, las Gunter das IT-Handbuch, welches er hinter dem Schreibtisch gefunden hatte, zum wiederholten Male, war aber von seiner Strategie nicht sonderlich überzeugt, da der Inhalt ihn eher an eine Lehrstunde in Kryptologie erinnerte. Also entschloss er sich dazu, nochmal durch die Regalgänge des Tresorraums zu joggen und einige Hampelmänner zu machen – das würde ihn wenigstens kurzfristig warm halten und sein Blut wieder zum Fließen bringen. Er hatte gerade seine sechzehnte Runde in Anlauf genommen, als er bei der Tür etwas knacken hörte. Aufgeregt und in freudiger Erwartung eines verdutzten Gesichts und einer warmen Tasse Tee, lief er zum Eingang und bereitete sich darauf vor, von einem seiner Kollegen spöttisch in Empfang genommen zu werden. Sie nannten ihn Kamikaze-Gunter, weil er sich ständig in Lebensgefahr brachte, obwohl man eigentlich davon hätte ausgehen können, dass er als kluger Kopf auf sich aufpassen könnte.
Er war sechsunddreißig Jahre alt, als er genervt gegen ein Metallregal im Tresorraum-1 getreten und damit eine Erschütterung ausgelöst hatte, welche den Kehrbesen neben der Türelektronik auf den Kontaminationsknopf hatte fallen lassen; leider war die Anlage gerade erst fertiggestellt worden und bisher hatte niemand diese Sicherheitslücke entdeckt und Gunnar war von seinem Glück verlassen worden.