Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Es war nach einem milden Winter wärmer geworden und ich konnte den Straßenlärm durch die geöffnete Balkontür hören. Hier im siebenundzwanzigsten Geschoß vermischte sich der Klang der vorbeieilenden Autos, Lastwagen und der Regionalbahn zu einem pochende Rauschen, das ich in der Vergangenheit immer gerne mit dem Puls der Stadt verglichen hatte. Doch natürlich war diese Vorstellung nichts weiter als einer meiner kläglichen Versuche, die hastige Gleichgültigkeit der Welt in der ich lebte zu romantisieren.
Ich stand vor dem Küchentresen und starrte seit geraumer Zeit durch einen Harass randvoll mit Rotweinflaschen, die mir am Tag meines Einzugs hinterlassen wurden. Ich mochte keinen Rotwein und obwohl ich in meinen Teenagerjahren gedacht hatte, ich würde mich durch den einen oder anderen Vollrausch besser in die normative Gesellschaft meiner Klassenkameraden einfügen können, mochte ich Alkohol grundsätzlich nicht. Meine Hände hingen schwer zu meiner Seite und wippten kaum merklich bei jedem Atemzug, so dass die Fingerkuppen über den verwaschenen Baumwollstoff meiner Boxershorts glitten. Die Shorts waren vermutlich mein ältester Besitz, zusammen mit dem dazu passenden T-Shirt, das Luke Skywalker mit ernster Miene und gezücktem Lichtschwert vor einem schwarzen Sternenhimmel zeigt. Beide Kleidungsstücke erinnerten mittlerweile eher an Stofffetzen, aber es war das erste Mal gewesen, dass ich für meine Fähigkeit mich für Stunden auf einen Bildschirm und den Code, der darauf flackerte zu konzentrieren, einen Preis gewonnen hatte. Im Jahr 1986 war mir endlich bewusst geworden, dass mein Hobby, welches mich noch mehr zum Außenseiter gemacht hatte, als die Akne und meine schwächliche Konstitution, Zukunft hatte und das vielleicht auch ich mich, irgendwann, normal fühlen könnte.
Eine altbekannte, stille Panik überkam mich, jagte düstere Phantasien durch meine Gedanken, wie ein Regenschauer im Sommer. Nachts war es immer schlimmer, ganz so als würde die Sonne, wenn sie, kurz bevor sie verschwand, die Bäume am weit entfernten Horizont berührt, einen Schalter in meinem Gehirn umlegen. Ich hatte mit diversen Ärzten darüber gesprochen, früher, als ich noch die Illusion hatte ich wäre fähig meinem zynischen Herz Optimismus beizubringen. Doch wie alle menschliche Interaktion empfand ich die ewigen Sitzungen, die erzwungen Gespräche in den Praxen, deren heitere Einrichtung in Wahrheit nur eine deprimierende, schlecht gerenderte Fassade war, lediglich als Belästigung, als unnötige Ablenkung. Also habe ich irgendwann aufgegeben und meine bezahlten Zuhörer, genauso wie einen Großteil meiner Freunde und Kameraden, hinter mir gelassen. Ich hatte keine Verwendung für ihre veralteten und widerlegten Theorien, deren gleichermaßen simples, wie fehleranfälliges Konstrukt mich in etwa genauso sehr interessierte wie Kassensoftware. Alles was ich brauchte, alles was ich je brauchen würde, war genügend Zeit um in Zurückgezogenheit mein Projekt zu beenden. Danach, das wusste ich seit Ewigkeiten mit unumstösslicher Gewissheit, wäre ich frei auch mein Dasein zu beenden.
Ein spitzer, elektrischer Ton hallte durch mein Apartment und schob den Gewittersturm in meinem Kopf auf die Seite, nur um ihn dann mit noch grösserer Gewalt zurückkehren zu lassen. Für einen kurzen Augenblick fühlte ich mich so, als würde sich ein Rastergitter unter mir ausbreiten und ein Polygonmodell meiner selbst in ein Wurmloch saugen, als würde ich fallen ohne je den Boden unter meinen Füssen zu verlieren. Erschrocken schüttelte ich den Kopf und rieb mir mit kratzenden Fingernägeln über die Unterarme, bevor ich meinen unfokussierten Blick von dem, scheinbar transparenten, Harass löste und mich umdrehte.
Es hatte noch länger gedauert, als ich gedacht hatte aber nun war meine Welt komplett. Sie existierte wahrhaftig auf einer Serverfarm, um deren Wohlergehen ich mich nicht kümmern musste und gespeichert als vollständiges Backup auf dem unordentlichen Haufen von zusammengewürfelten Rechnern im Nebenraum, welcher irgendwann mein Schlafzimmer gewesen war. Abwesend trennte ich die Verbindungen zwischen den letzten Harddisks und meiner gewaltigen Computerzusammensetzung und schob sie auf dem Gepäckwagen beiseite, bevor ich mich hinsetzte und mich zum allerersten Mal einloggte.
Nach Tagen der Erkundung war ich überzeugt: Sie war perfekt, eine Galaxie in einer Galaxie, ein ganzes Universum in einem Universum, erschaffen von einer unbedeutenden Lebensform, deren physisches Bestehen bald enden würde. Zum widerholten Mal überflog ich den Seitenlangen Code-Fetzen, welcher mir Unendlichkeit schenken würde, mich als digitale Kopie ersetzen würde und als ich mit Bestimmtheit sagen konnte, dass alles zu meiner Zufriedenheit war, grinste ich so sehr, dass meine Wangen schmerzten.
Ich hatte schon vor einiger Zeit damit begonnen, alles bis ins kleinste Detail vorzubereiten, so dass ich lediglich den Ordner aus der obersten Schublade nehmen und auf die Anrichte legen musste. Die erste Mappe enthielt alles was notwendig war, bis auf den Totenschein, damit mein Ableben möglichst wenige Umstände bereiten würde, für den unwahrscheinlichen Fall, dass ich irgendwo noch eine Familie hatte. In den restlichen Mappen, über vierzig Stück, war eine genaue Anleitung zu meiner Schöpfung, die jedem, der auch nur einen Funken Verstand hatte, alles erklärte, was er zu wissen brauchte. Auf der letzten Seite war mein weltliches Testament, welches in drei Stunden zusammen mit Terabytes an Sourcecode auf meiner Website veröffentlich werden würde. Es machte das Von-Neumann-Universum offiziell zu Opensource Material und würde auch in Zukunft sicherstellen, dass mein Werk für immer der gesamten Menschheit zur freien Verfügung stünde.
Mit einem letzten Blick auf meine ausgeschalteten Bildschirme und auf die Brust gehaltenen Handflächen, schloss ich die Augen und sprang. Mein ausgezehrter und vernachlässigter Körper zerschellte kurz darauf auf dem nächtlichen Bürgersteig, doch es war in Ordnung. Bald schon würde ich wieder aufwachen und für immer in meinem eigenen Universum leben können.