Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Es war ein ungewöhnlich heisser und schwüler Sommernachmittag, die Leute schleppten sich apathisch und demotiviert durch das Dorf, wenn sie wirklich nach draussen mussten und die Bauern mähten ihre üppigen Wiesen, welche die Hügel der Voralpenlandschaft bedeckten, jeweils erst am späten Abend. Ich hatte es mir am Ende der langen Bank bequem gemacht, die an dem Rand des Dorfplatzes stand und von einem grossen Baum beschattet wurde, dessen Blätter ab und an beinahe apathisch in einer leichten Brise raschelten. Der schwache Wind war das einzige Versprechen auf Abkühlung, denn in den kurzen, mit Grillenzirpen erfüllten, Sommernächten fielen die Temperaturen nicht tief genug, als dass das erdrückende Klima angenehm geworden wäre. In der Luft lag der süsslich-bittere Geruch frischen Heus, und war dermassen penetrant, dass er einen auf Schritt und Tritt verfolgte und auch dann kaum nachliess, wenn man im Haus war. Ich hatte mittlerweile einen Bärenhunger, doch bisher hatte ich mich noch nicht dazu überreden können aufzustehen, also döste ich in der flirrenden Nachmittagshitze weiter vor mich hin.
Zwei ältere Damen, Frau Meier und Frau Thommen, wenn ich mich recht erinnerte, traten aus dem Tante-Emma-Laden und schlenderten, beide mit einem Eis in der Hand, quer über den Dorfplatz auf meine Bank zu. Soviel zu meiner Ruhe, dachte ich mir erst, als sie sich, in eine angeregte Unterhaltung vertieft, auf dem rauen, unlackierten Holz niederliessen. Doch wie immer liessen sie mich unbehelligt dösen, denn offenbar war ihr Gespräch viel zu interessant, um ihrer Umgebung noch gross Aufmerksamkeit zu schenken. „…und die Lotti, die hat im Moment wirklich Probleme mit einem Weisheitszahn, wahrscheinlich müssen sie den rausoperieren“, erzählte Frau Meier eben, als ich den beiden Damen zuzuhören begann.
„Oh je, das tut mir aber leid für sie“, entgegnete Frau Thommen in einem Ton, der nahe legte, dass die arme Lotti auf dem Sterbebett liegen müsste. Für eine kurze Zeit schwiegen sie, ganz beschäftigt mit ihrem Eis, bevor Frau Meier schliesslich die Stille unterbrach: „Ich hoffe, heute kommt endlich ein Gewitter, es ist an der Zeit, dass es mal wieder regnet.“
„Es kommt darauf an“, entgegnete ihr Gegenüber nachdenklich, „erinnerst du dich noch an das grosse Unwetter von Fünfundsechzig? Damals ist sogar der Dorfbach über die Ufer getreten und sie mussten die ganze Strasse neu machen!“
„Ja genau“, rief Frau Meier aus, dankbar ein Thema gefunden zu haben, bei welchem sie in Erinnerungen schwelgen konnte. „Unser Keller stand damals bis zur Decke hin unter Wasser und dabei lagen da ganz viele Laibe Käse. Das war eine richtige Schweinerei.“
„Und?“, fragte Frau Thommen neugierig, „Was habt ihr mit dem Käse angestellt?“
Frau Meier lachte, ein Geräusch, das mich immer kurz erschreckte. „Wir haben ihn abgewaschen und dann den Schneiders verkauft. Die haben gemeint, das sei der beste Jahrgang gewesen, den sie je gegessen hätten.“
Während die andere Frau in das Gelächter einstimmte, fragte ich mich, wie das Leben zur damaligen Zeit gewesen sein musste. Ich war viel zu jung, um mich daran erinnern zu können und derart in Nostalgie zu schwelgen wie die beiden rüstigen alten Damen, die nun die Holzstängel ihres Eises in den metallenen, rostigen Mülleimer warfen. Der Wind frischte etwas auf, eine willkommene Abwechslung und ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich irgendwo ein Sommergewitter zusammenbraute – jetzt blieb nur noch zu hoffen, dass es sich in der Nähe entlud und damit für die langesehnte Abkühlung sorgen würde. Während ich über das Wetter sinnierte, fiel mir auf, dass sich das Gesprächsthema meiner Platznachbarinnen geändert hatte. „…und die Doktrin damals war einfach, dass der Lehrer immer Recht hatte. Die Schulbücher sind aber auch noch nicht so schön illustriert gewesen, da hörte man lieber dem Lehrer zu.“
„Siehst du, dann war früher doch nicht alles besser“, antwortete Frau Meier mit einem schelmischen Grinsen. Ich hatte während meiner faulen Zeit auf der Dorfbank, welche von den Anwohnern mehr oder weniger liebevoll „Klatschstuhl“ genannt wurde, sehr rasch begriffen, dass die Meier mehr subversives Potential hatte als fünf kiffende Teenager – ausserdem roch sie besser. Und irgendwie schien sie magische Fähigkeiten zu haben, denn statt mit ihren Kommentaren die anderen Rentnerinnen zu brüskieren, erhielt sie meistens Zustimmung. „Da hast du auch wieder Recht“, antwortete nun Frau Thommen. „Ich denke sowieso, dass diese früher-war-alles-besser-Sache eine Missinterpretation ist. Aber die Lehrer, die haben noch immer Recht, nur die Schüler hören nicht mehr zu, mein Jüngster unterrichtet ja die fünfte Klasse, da muss ich das wissen.“
„Ach ja, die werden schneller erwachsen als man es erwartet“, murmelte Frau Meier nachdenklich und fügte dann ernst hinzu: „Doch Oma zu sein hat auch was Gutes. Ich mag ja Kinder, aber so kann ich sie immer zurückgeben wenn ich meine Ruhe will.“
Die Thommen gluckste und streckte sich nach einiger Zeit umständlich. „Ich glaube, es wird Zeit fürs Abendessen“, erklärte sie dann. Ihre Gesprächspartnerin nickte und die beiden Damen erhoben sich und schritten zufrieden weiterplappernd über den hellen Kies des Dorfplatzes von dannen. Zufrieden, mein Tagespensum an Unterhaltung gehabt zu haben, räkelte ich mich auf der nunmehr leeren Bank, schloss die Augen und lauschte dem gleichmässigen Rascheln der Blätter über mir. Ein weiterer heisser Sommertag neigte sich dem Ende zu und gleich würde ich aufstehen und gemächlich nach Hause schlendern, wo mit etwas Glück schon mein Abendessen auf mich wartete. Mein Tageswerk war getan und so gab es keinen Grund zur Eile – ausser dem Hunger natürlich. Zufrieden döste ich wieder ein und genoss den angenehmen Dämmerzustand zwischen Schlaf und Wachsein.
Ein fetter Regentropfen klatschte auf meine Nase und ich sprang erschrocken auf und nieste laut. Tatsächlich, es begann zu regnen, begleitet von dem vor einem Sommergewitter üblichen Geruch (war es heisser, nasser Asphalt?), der in der Luft lag und dann kam auch schon der erste Donnerschlag. Mit lautem Krachen marterte er mein empfindliches Gehör und rollte durch das Tal. Ich sprang von der Bank herunter, zog meinen fussligen, braun getigerten Schwanz ein und huschte geduckt und auf flinken Pfoten durch den Regen, welchen ich bloss mochte, wenn ich nicht selbst darin stehen musste, in die Richtung meines trauten Heimes, wo es trocken sein und sicher längst nach Essen durften würde.