Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Zum ersten Mal seit vielen Monaten war es still. Keine Maschinen, die Sauerstoff in sie pumpten, keine Geräte, die Flüssigkeiten austauschten und kein leises Piepsen, das ihren Herzschlag bezeugte. Es war still. Unfassbar still. Seine Arme hingen schlaff herunter, das Handy entglitt ihm und landete lautlos auf dem Teppich. An Weihnachten vor siebenundzwanzig Jahren war sie zu ihm gekommen, ihre Mutter hatte sie auf der Schwelle seines Apartments überreicht und gemeint: „Ich kann das nicht. Sie gehört dir.“ Man hatte ihm geraten, einen Vaterschaftstest machen zu lassen, statt dem Wort einer Unbekannten zu glauben, mit der er einen belanglosen One-Night-Stand gehabt hatte. Behutsam beugte er sich zu ihr hinunter, betrachtete ihre auf der Brust gefalteten Hände und die markante Nase – dieselbe wie seine. Ihm war von Beginn an klar gewesen, dass dieses kleine Wesen seine Tochter sein musste, sein Weihnachtswunder. Die Wanduhr im Atrium schlug halb sechs, es wurde Zeit. Er erhob sich, küsste sie auf die Stirn und löschte die Nachttischlampe. Die Bremsriegel am Bett klackten, als er sie löste, ein Geräusch, das ihn an ihre Kinderschuhe auf dem Hartholzboden erinnerte. Winzig war sie gewesen, hatte perfekt auf seinen Schoß gepasst. Dann war sie gewachsen, saß weniger oft dort und dennoch verließ sie ihn nie ganz. „Nur die Sonne hab ich lieber als dich“, war das Schönste, was er je gehört hatte. Sein Weihnachtswunder vergötterte den Sommer. Gebräunt rannte sie jubelnd ihrer Zukunft entgegen. Vorsichtig schob er das Pflegebett durch die Tür in den Flur, eilte herum und öffnete den ebenerdigen Durchgang zum Wintergarten, dem hellsten Raum im Haus. Der Weg durch die mittlerweile viel zu groß gewordene Villa wirkte heute früh noch endloser. Einst hatte es ihm etwas bedeutet, Verleger einer renommierten Zeitung zu sein. Der sich anhäufende Reichtum, das riesige Anwesen, die alltäglichen Annehmlichkeiten, blieben für ihn allerdings lediglich ein netter Nebeneffekt der Arbeit, die ihm so wichtig erschien. Sie spielte keine Rolle mehr. Bei jedem Schritt flehte ihn die Stimme in seinem Kopf an, er solle umkehren, zurück in ihre Kindheit. Aber es ließ sich nicht ungeschehen machen, also wollte er ihr wenigstens einen letzten Sonnenaufgang schenken, den Sensenmann im Licht ertränken. Mit einem schweren Seufzer verschaffte sich seine Verzweiflung Gehör, ruhig rollte er das Bett vorbei am Büro hinein in den Wintergarten und platzierte seine Tochter vorne an der Fensterfront zwischen einer beinahe deckenhohen, blühenden Strelizie und der Kommode, auf welcher sich seine Zöglinge durch feuchte Erde hervorkämpften – alles, was er liebte, reckte den Kopf stets der Sonne entgegen. Sorgfältig arretierte er die Rollen und holte sich einen Stuhl vom Gartentisch heran. Er hatte diesen Tag gedanklich tausendmal durchgespielt, versucht, sich vorzubereiten auf diesen einen Moment, an dem sein Leben in sich zusammenfallen würde – vergeblich. Was er durchmachte, gehörte zu den Dingen, die weder vorbereitet noch geprobt, sondern bestenfalls akzeptiert werden können.
„Schau, Schatz, bald kommt die Sonne.“ Was für eine Schönheit sie war, selbst in diesem Zustand schillerte sie regelrecht und er war stolz auf sie, dass dieser simple Fakt sie nicht interessierte. Sie hätte zweifelsohne Model oder Schauspielerin werden können. Stattdessen studierte sie Veterinärmedizin und verbrachte ihre wenige Freizeit im Tierheim. Viele, die in der Sonne stehen, lassen sich zu gerne von ihr blenden, sie verschließen die Augen vor dem Leid, das sich direkt vor ihrer Nase abspielt. Für sie wäre das einfach gewesen, gefehlt hatte es ihr an nichts. Doch an Durchblick hatte es ihr ebenso nie gefehlt, im Gegenteil – manchmal erdrückte sie die Last der Welt.
„Die Hügel glühen schon“, flüsterte er ihr zu, streichelte ihr über den kalten Oberarm und bildete sich ein, ein Lächeln auf ihren Lippen zu entdecken. „Siehst du, dort? Unser Lieblingsbaum wirft lange Schatten.“ Langsam atmete er aus, quetschte allen Sauerstoff auf seinen Lungen und legte sich mit dem Oberkörper auf sie, vergrub sein Gesicht in ihrer Decke. Regungslos verharrte er, wollte für einen Augenblick fühlen wie es ist, luft- und leblos im Dunkeln auf die Sonne zu warten. Die Vögel zeigten kein Erbarmen, zwitscherten fröhlich ihre Frühlingslieder und beschworen den Klang ihres Lachens herauf.
„Das ist nicht okay“, schluchzte er auf. „Ich will das nicht. Ich will das nicht, komm zurück!“ Seine Finger verkrampften, krallten sich an sie und er schüttelte die Hülle seiner Tochter, seiner erloschenen Sonne, als der hellste Stern am Himmel sie in goldene Wärme tauchte.