Eine halbe Stunde nachdem die Sonne aufgegangen war, fand ein Viereck aus Licht seinen Weg durch die Ritzen der Jalousie und fiel auf den Vinyl-Fußboden der Einbauküche. Es war Sonntag und ich hatte so lange geschlafen, dass nun meine Gelenke vom Herumliegen schmerzten und mein Kopf sich so anfühlte, als wäre er versehentlich in der Mikrowelle gelandet. Mit einer theatralischen Grimasse, die sowieso niemand sehen würde, trank ich mein Vitaminwasser in großen Schlucken aus und spülte den widerlichen Geschmack nach salziger Orange mit dem frisch aufgebrühten Kaffee weg – was man nicht alles tat um dem Zerfall des eigenen Körpers entgegenzuwirken und das obwohl ich jeden Tag mit verklärt romantischen Suizidgedanken die unerträgliche Leichtigkeit des Seins zu verringern versuche. Als Maus sich mit einem leisen Scharren meldete, erhob ich mich von dem knarrenden Küchenstuhl und hockte mich vor den großzügigen Käfig um meinen einzigen Kumpel zu begrüßen. Er blinzelte mich mit seinen schwarzen Knopfaugen an und gähnte ausgiebig, ganz so als würde er meinen verschlafenen Schmerz teilen, bevor er freundschaftlich meinen Zeigefinger ableckte und mich erwartungsvoll ansah. „Jaja“, sagte ich ihm und bemerkte, dass meine Stimme vom stundenlangen Schweigen ganz heiser geworden war. Maus hatte die Körner begierig in sein Häuschen getragen und mir dann gespannt dabei zugesehen, wie ich das verdreckte Einstreu zusammen mit dem Rattenkot in den Mülleimer geschippt habe, währendem im Radio eine Frau das nächste Lied ankündigte und zweimal hustete.
Die Zeitung war mir langweilig geworden, ich mochte nicht jeden Tag von denselben Querelen erfahren, die Welt würde sich so oder so nie ändern. Also rollte ich das dünne Papier zusammen und warf es von meinem Platz am Tisch aus auf den Recyclingstapel, genehmigte mir ein zweites Croissant und füllte meine Tasse nochmals auf. Der Morgen verlief beinahe quälend langsam und ich verschwand in einem Zeitdunst, vergaß die vage Linie zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und überhörte das Ticken der Wanduhr. Das Gebäck war bröselig, mein Gesicht fühlte sich vom langen Liegen noch immer heiß und aufgedunsen an und aus den Lautsprechern säuselte irgendeine bedeutungslose Melodie – ein Sonntagmorgen wie jeder andere.
Als hätte man mir mit einer Druckluftpistole den Staub aus den Windungen meines Gehirns gefegt, übermannte mich eine unerwartete und vollkommene Klarheit und ließ mich verwundert erbeben. Ich war hier, tatsächlich und wahrhaftig hier. Eine kalt-weiße Spotlampe schien auf meine Existenz im Hier und Jetzt und ich blieb verblüfft von der plötzlichen Realisation der Realität wie versteinert auf meinem Stuhl sitzen, starrte auf den Sekundenzeiger und zählte die Lebenszeiteinheiten, die ungenutzt verflogen. „Ich bin hier, tatsächlich und wahrhaftig hier!“, murmelte ich und fühlte wie sich meine Lungen mit der stickigen Luft füllten, wie sich die feinen Härchen auf meinen Armen aufrichteten und wie der Filz meiner Hausschuhe feucht an meinen Zehen klebte. Die Vertrautheit meiner Küche verzerrte sich und alles erschien unverändert und doch so anders, so greifbar und gewiss. Bedächtig erhob ich mich und wanderte, jeden Schritt meiner Existenz auskostend, zum Fenster um mehr von dieser neu erleuchteten Welt zu entdeckten, doch als ich meine Hand ausstreckte um die abgebrochene Stange, welche hinter der Vorhangleiste herunterbaumelte, zu ergreifen, wurde ich von einer instinktiven Vorahnung erfüllt. Sobald ich die Jalousie öffnen und dieses fragile Konstrukt der klaren Realität dehnen würde, würde all das verschwinden, was bisher im Dunst der Zeit verborgen geblieben war. Ich zog meine Hand wieder zurück und schlenderte stattdessen ziellos durch den abgedunkelten Raum, genoss das ungeahnte und plötzliche Verstehen meiner eigenen Existenz. Ich war tatsächlich und wahrhaftig hier und als wäre dieser unwahrscheinliche und ebenso unumstößliche Fakt nicht wundersam genug, ab und an war es mir sogar vergönnt, diesen Umstand in seiner Ganzheit wahrzunehmen, ihn mit vollem Bewusstsein zu erleben.
Der Geruch des frischen Strohs kroch in meinen Verstand und ich dachte an den kleinen hellgoldenen Ring meiner Großmutter, den Herbst und das Geräusch des Windes in den sterbenden Blättern. Unsere Welt, so wie wir sie gestalten, mochte nicht perfekt sein und wir mögen ständig an ihren Wahrheiten zweifeln, zumal wir sie lediglich durch unsere eigenen, isolierten Sinne wahrnahmen, doch in Augenblicken wie diesen erschein sie mir wunderbar. Ohne an das Gestern oder Morgen zu denken war ich dankbar für diese Momente. Ich war dankbar dafür, geboren worden zu sein, dankbar dafür, die Möglichkeit zu haben, meine Existenz zu verstehen und so zu erleben, wie nur ich es konnte, selbst wenn der Filz an meinen Füssen haftete, wie feuchtes Hundehaar an Jeanshosen.
Es war Abend geworden und ich konnte mich nicht mehr entsinnen, wie der Sonntag an mir verschwendet worden war, wo ich gewesen war und was ich getan hatte. Meinem schlafgeschädigten Körper ging es besser, doch ich fühlte mich von meinem Geist verlassen und Maus saß auf meiner Schulter und machte sich einen Spaß daraus, mir mit seinem nackten Rattenschwanz die Nase zu kitzeln. Ich las ihm etwas vor und bildete mir ein, dass er das mochte, dass er meine Worte verstand und sich mir für die gemeinsam verbrachten Minuten verbunden fühlte. Und weil sonst niemand da war, der mir hätte Fragen stellen können, erklärte ich ihm geduldig woher wir alle kamen und wohin wir gehen würden, währendem der Regen an die Scheiben klopfte und der Docht der Kerze im Wachs versank. „Der Tod“, begann ich zu erläutern und konnte erkennen, dass seine Schnauzhaare mich neugierig befühlten und nach etwas Essbarem suchten. „Der Tod ist im Grunde derselbe Zustand wie jener, den wir vor unserer Geburt nicht erlebt haben. Er ist die unversehrte und totale Bewusstlosigkeit, der Abschnitt von unseren Sinnen und unserer Teilnahme an dem was wir ‚Ich‘ nennen.“ Entzückt blickte mich Maus an, krabbelte in meinen Wollpullover, rollte sich dann auf meinem Bauch zusammen um einzuschlafen und ich lächelte gelassen.
Die überwältigende Erfahrung der eigenen Existenz war verschwunden und zu einer flüchtigen Erinnerung geschrumpft, doch zu wissen, dass mein Gehirn zu dieser unvergleichbaren Klarheit fähig war, ersetzte einmal mehr die trostspendende Idee meiner ‚Entburt‘. Erschöpft vom langen Tag der Ziellosigkeit ließ ich meine Fingerkuppen auf dem ledernen Buchrücken ruhen und gönnte mir einige Augenblicke hinter geschlossenen Lidern, bevor ich ins Badezimmer trottete um meine Zähne zu putzen und meine philosophischen Gedanken vorübergehend im traumlosen Schlaf, in der Simulation des Todes, zu verlieren – ein ganz normaler Sonntag also.