Warnung: Diese Kurzgeschichte greift ein Thema auf, das für einige Leser schwer zu verkraften sein könnte. Mehr zu unseren Warnungen sowie wann und weshalb wir sie anwenden, erfahrt ihr in unseren FAQ.
Ein langer Mittwoch lag hinter Sean, einer derjenigen Tage, die ihn körperlich und geistig völlig auslaugten. Dass Keyla in keiner guten Verfassung war, erkannte er, sobald er den Wagen in der Einfahrt geparkt hatte. Sie lehnte hinter dem Fliegengitter gegen den Türrahmen und rauchte, das Küchenlicht verwandelte sie in eine dünne Silhouette, die Glut ihres Glimmstängels leuchtete in kurzen Abständen auf. Drei Kürbisse standen aufgereiht neben ihr, die Kerzen darin züngelten schwach, die geschnitzten Halloweenfratzen grinsten ihm mehr freudig als gruselig entgegen. Kaum war er ausgestiegen, wandte sie sich ab und verschwand ins Haus. Sean verweilte einige Sekunden auf der Veranda, strich sich durch die schweißnassen Haare und klopfte Staub von seiner Jacke. Wie jedes Kind hatte auch er einmal davon geträumt, ein glamouröses Leben zu führen, zu gerne hätte er sich als Indiana Jones gesehen, wäre mit Rappern durch die Clubs gezogen oder als Feuerwehrmann zum Helden geworden. Daraus war nichts geworden, die meisten seiner Fantasien zerbarsten, platzen eine nach der anderen. Bloß einer seiner Wünsche war in Erfüllung gegangen, der beste von allen: Sean war Papa von zwei Töchtern, alleine dank ihr, Keyla. Er seufzte, kratzte die trockenen Stellen an seinen Mundwinkeln und stieß die Fliegentür auf. Als er eintrat, huschte seine Freundin wortlos an ihm vorbei ins Schlafzimmer, es roch nach verbranntem Popcorn und kalter Zigarettenasche.
„Key-Key?“, rief er ihr hinterher, da kam sie zurück, funkelte ihn wütend an.
„Was willst du? Was, huh? Was willst du?“ Sie trug ihren alten Bademantel, darunter ein Bustier und eine von Seans Unterhosen. „Sag!“
„Key, wo sind die Mädchen?“ Es war schon einige Monate her, seit er Keyla in diesem Zustand vorgefunden hatte. „Key, wie geht es den Mädchen?“
„Key, wie geht es den Mädchen?“, äffte sie ihn in gehässiger Tonlage nach, fixierte ihn und stemmte die Hände gegen die Hüfte, bevor sie keifte: „Immer geht es dir um die scheiß Mädchen, Sean. Die Gören schlafen, lass mich in Ruhe!“ Ihre Bewegungen waren hektisch, wirkten unkontrolliert.
Er schluckte, schaute ins Wohnzimmer, in dem das übliche Chaos herrschte, Puppen, Kleider, eine Plastikspinne und DVD-Hüllen lagen auf dem Couchtisch. „Hast du deine Medikamente genommen?“
„Halt einfach deine blöde Fresse, Sean!“ Ungelenk ließ sie ihre Frotteerobe auf den Boden fallen und spuckte daneben. Ihr Speichel war bernsteinfarben, durchzogen von milchigen Fäden und schwarzen Popcornbrocken. Bestimmt hatte sie getrunken, Whiskey, womöglich Orangenlikör. „Hast du gehört? Halt deine verdammte Fresse!“ Dann stolperte Keyla zum Sofa, schnappte sich ihre Jeans und brummte unverständliche Flüche, während sie sich anzog. „Den Mädchen geht es gut“, murmelte sie, streifte einen Pullover über und marschierte an ihm vorbei aus dem Haus. „Gut. Gut geht es ihnen. Das ist alles, was dich interessiert, du Schwein. Es geht ihnen gut. Sie schlafen.“
Nachdem sie davongestürmt war, eilte er zum Kinderzimmer. Seine Engel schlummerten tatsächlich tief und fest, beide im selben Bett mit dem Rücken zur Tür, über ihnen hingen die Papiergespenster, die sie vorgestern gemeinsam gebastelt hatten. Sean war erleichtert, dass sie den Ausbruch ihrer Mutter nicht hatten mitansehen müssen. Ihren biologischen Vater hatten sie nie kennengelernt, er war noch vor der Geburt der Zwillinge verhaftet worden. Einen Papa hatten sie trotzdem, Sean liebte die zwei, für ihn waren sie seine Kinder. In wenigen Wochen, vorausgesetzt, mit der Adoption liefe alles wie geplant, wären sie das auch vor dem Gesetz.
Er schlenderte in die Küche, wollte ein wenig aufzuräumen, die Folgen von Keylas Episode in Ordnung bringen. Zwar machte er sich Gedanken wegen ihr, fragte sich, wo sie gerade war, ob sie wohl wie ein Halloweenmonster durch die Straßen torkelte und Teenager auf dem Nachhauseweg von einer Party verschreckte. Wahrscheinlich hätte er ihr nachrennen sollen, aber die Müdigkeit lastete schwer auf ihm. Sowieso wäre es sinnlos, mit ihr zu diskutieren. Sean hatte gelernt, in solchen Situationen geduldig zu bleiben, den nächsten Morgen abzuwarten, wenn sie Zeit hatte, sich zu abzukühlen. Also genehmigte er sich einen Schluck direkt aus der Rumflasche, stellte seine nassen Stiefel von der Fußmatte auf den Radiator und ging ins Bett.
Er war regelrecht kollabiert. Der einzige Vorteil daran, derart erschöpft zu sein, waren die traumlosen Nächte. Vermutlich alarmierte ihn sein Unterbewusstsein deshalb über das leise Klickgeräusch, das nicht in die ansonsten stille Umgebung passte. Räuspernd öffnete er seine Augen und erhaschte einen Blick auf einen geschwärzten Lauf, ehe Keyla sich umdrehte und frenetisch mit der Waffe herumfuchtelte. Da wurde Sean plötzlich hellwach, begriff, was gerade geschehen war. Eine Ladehemmung. Keyla hatte ihn eben erschießen wollen! Von einer unbeschreiblich furchteinflößenden Beklemmung gepackt, sprang er auf, hechtete seiner Freundin hinterher und versuchte sie am Handgelenk zu erwischen, ihr die Pistole abzunehmen.
„Key, Key!“, kreischte er in fassungsloser Panik. „Key, das ist nicht dein Ernst!“ Statt ihm zu antworten, ihn auch nur wahrzunehmen, nuschelte sie zusammenhangslose Sätze vor sich hin.
„Ha, ha! Fliegen hoch.“ Lallend tigerte sie auf und ab. „Ha. Ha! Fliegen hoch, ganz weit hoch. Gehe runter. Ha, ich bin die Teufelin.“
„Key!“, unterbrach er sie, unterdrückte den Impuls, sie zu schlagen.
„Sie schlafen“, meinte sie und lachte auf. Die Kälte in ihrer Stimme kroch in Sean, er erschauderte, gab es auf, Keylas unberechenbare Zuckungen zu jagen und blieb mit schlaff hängenden Armen vor dem Bett stehen.
„Key-Key, was willst du damit sagen?“ Erneut kicherte sie, gluckste, bis sie sich verschluckte. „Key, was hast du getan?!“, brüllte er und ergriff sie an den Schultern. „KEY!“
„Es ist zu spät“, murmelte sie schließlich, sah dabei heiter und zufrieden aus. „Es ist zu spät, Sean.“
Sogleich ließ er von ihr ab, schob sich an ihr vorbei und sprintete zum Kinderzimmer. Da waren sie, seine Engel. Noch immer mit dem Rücken zur Tür, unter ihren Papiergespenstern, lagen sie friedlich unter der Decke, hatten den Streit nicht gehört.
„Es ist zu spät!“, jaulte sie im Flur und brach in unkontrolliertes Gelächter aus. Er wusste es, dennoch schwankte er einige Schritte vor, streckte seine Finger aus und berührte sie.
„NEIN!“ Ein Schuss ertönte und die Lachsalven versiegten, wurden abgelöst von einem einzigen, viszeralen Schrei, der sich aus Seans Eingeweiden kämpfte, als er über seinen Kindern zusammenbrach. Sie waren starr, seine Mädchen waren zu steinernen Engeln geworden.