Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Jerome stand vor der Teigmaschine und betrachtete die rotierenden Bewegungen im Kessel. Wie üblich war es heiß in der Backstube, es war halb vier Uhr morgens und der Betrieb lief auf Hochtouren. Dennoch fror er, ihm war flau. Sein Magen fühlte sich eiskalt an. Der Arbeitsraum lag im Keller, dennoch gewährte eine schmale Luke den Blick in den Hinterhof, wo das satte Grün eines Ahorns Tag für Tag mehr ins Gelbliche kippte. Ein Großteil der Blätterpracht verschrumpelte mittlerweile zu seinen Wurzeln, raschelte jeweils unter Jeromes schweren Schritten, wenn er kurz nach Mitternacht zur Arbeit marschierte. Er hatte den Ahorn heute früh kaum wahrgenommen und war mit offenen Augen gegen einen Laternenpfahl gelaufen. Sein Hirn wollte nicht richtig funktionieren, knetete seine Gedanken wie die Teigmaschine den Teig. Ob das am Tumor lag, der an seiner Hirnanhangdrüse wucherte?
Jean rauschte mit dem Blechwagen hinter ihm hindurch zu den Öfen. Im Vorbeigehen boxte er dem jüngeren Bäckergesellen auf die Schulter und haspelte: „‘sn los?“ Nur langsam wanderte Jeromes Aufmerksamkeit von den hypnotischen Bewegungen im Kessel zum anderen. „Bis’n bissl weg jetret’n?“ Der ehemalige Teppichhändler schluckte, wandte sich von der Knetmaschine ab und machte eine zähe Geste der Unsicherheit. Für einen Moment flackerte sein Sichtfeld, dann verschwand Jean. Er verließ die Backstube nicht, er war einfach weg.
„Je… Jean?“ Als Jerome erschrocken zurückwich, stieß er eine Milchkanne um, sodass die kleine Backstube von markerschütterndem Lärm erfüllt wurde. „Fu… ck! Jea…?“, probierte er es erneut, gegen diese unerklärliche Trägheit kämpfend, die ihn seit dem Aufstehen plagte. Jerome hatte das Bedürfnis, Angst zu empfinden, stattdessen entspannte sich sein Körper, drängte ihn dazu, zusammenzusacken und die rechte Wange auf die Fliesen zu lagen. „Wa… waaaa-as?“, lallte er, da vernahm er ein vertrautes Geräusch, das Klacken von Hundekrallen auf hartem Boden.
„Hallo Jerome“, sagte Grover freundlich. „Willst du spielen?“ Der Labrador Retriever war vor vier Monaten gestorben, sein Fell glich daher eher einer ausgedörrten Grasnarbe als dem dichten Gespinn aus Goldfäden, das Jerome so sehr geliebt hatte.
„Grover, ich habe dich vermisst“, stellte er erstaunlich ruhig fest, trotzdem breitete sich auf den kühlen Fliesen eine Pfütze aus Tränen aus. „Wo warst du denn?“
„In der Erde“, meinte der treue Hund und legte sich hin, seine ausgetrocknete Nase zeigte direkt auf Jeromes. „Wieso willst du nicht spielen, Jerome?“
„Ich fühle mich nicht so gut“, gestand der Bäcker und bemerkte nebenbei, wie seine Verwunderung über diese surreale Situation, seine gelähmte Angst, ebenso verschwand wie Jean. Rasch blitzten Verwirrung und Panik auf, dann waren sie einfach weg. „Mir ist kalt.“
„Oh“, brummte Grover und leckte sich über seine Lefzen. Seine Haut war faulig, besetzt von grünem Schleim und seine Zunge riss Stücke davon ab, die sich danach im modrigen Schlund des Vierbeiners verloren. „Musst du eingeschläfert werden?“ Mit der Frage hatte Jerome gerechnet, er hatte sie Grover auch gestellt und es war bloß fair, dass dieser sich dafür revanchierte.
„Vielleicht.“ Er blinzelte. Langsam. Apathisch. Anschließend keimte etwas Hoffnung in ihm auf, sie war ganz alleine in seinem Hirn, wo ansonsten gähnende Leere herrschte. „Wartest du auf mich, wenn ich eingeschläfert werde?“ Grover lachte auf, es war vielmehr ein kehliges Grunzen, begleitet vom Gestank der Verwesung, der sich unter den Duft von frischem Brot mischte, ihn würzte wie gereifter Käse.
„Du bist lustig, Jerome.“ Das Tier ächzte auf, bevor es die Hinterbeine unter seinen Leib zog und sich hochhievte. Eine Sehne sprang heraus, klatschte schnalzend gegen den Kessel der Knetmaschine und baumelte schließlich von Grovers Sprunggelenk. „Komm, wir spielen.“ Ein Reißzahn blieb in Jeromes Nacken stecken, als sein langjähriger Freund ihn hochzuziehen versuchte, wenige Augenblicke später wurde Luft aus seinen Lungen gedrückt. Er war zu schwer für den Retriever, glitt unsanft Boden zurück und keuchte schmerzverzerrt: „Gro… Grover!“
„Oh“, tönte der Leichnam abermals. „Jerome, du willst nicht spielen?“ Da begann sich die Backstube zu rotieren. Zuerst schwankten die Wände, als säßen sie in einem Zug, der zu entgleisen drohte. Doch wie ein routinierter Schaffner gelang es Jerome, sich davon unbeeindruckt aufzusetzen und aufrecht zu halten, während der Raum sich um neunzig Grad drehte. Einem abgemagerten Buddha gleich, hockte er im Schneidersitz und starrte mit hängenden Lidern auf das Fensterchen, durch welches nun nicht länger der Ahorn, sondern die Pflastersteine des Hinterhofs zu erkennen waren. Indes ging Grover auf zwei kerzengeraden Beinen über die gekachelte Wand, wich hier und da den Gerätschaften aus, die seitlich in die gekippte Backstube hinausragten.
„Grover“, summte Jerome, seine Melodie wurde stetig fröhlicher. „Grover, Grover, Grover, die Welt gerät aus den Fugen ohne dich.“
„Jetzt können wir spielen, Jerome, spielen“, wiederholte der tote Hund seine Bitte und endlich hob der Bäcker seine Hand, um nach einer Teigkugel zu greifen. Kaum gedacht, hielt er Grovers Ball zwischen klammen Fingern und ließ ihn auf die Luke fallen. Die Gummikugel traf auf das Glas, es zersplitterte und dahinter tat sich ein burgunderroter Abgrund auf. Das Hundespielzeug purzelte hinein, tiefer, weiter und weiter.
„Oh, Jerome. Jerome“, fiepte der Retriever und setzte sich zu seinem Herrchen an den emporragenden Boden. „Das Spiel ist aus.“
Plötzlich lösten sich die Kacheln von den Wänden, klappten aus imaginären Scharnieren, flogen ab und verpufften schlussendlich in der Luft. Jerome wunderte sich keineswegs darüber, fand das alles irgendwie korrekt, ebenso wie seine Unterhaltung mit dem Leichnam seines besten Freundes. Sein Herz schlug. Einmal. Dann folgte eine lange Stille. Zweimal. Ruhe.
„Sterbe ich?“ Grover verharrte stumm an seiner Seite, sein gammeliges Fleisch verströmte einen seltsam bekannten Geruch. Süßlich beißend. „Grover, nimmst du mich mit?“ Burgunderrot. Überall. Nichts als Burgunderrot und Grover, dessen haarloser Schwanz ergeben hin und her wedelte.
„Dir geht es nicht gut, Jerome, du willst nicht mehr spielen.“ Die Worte purzelten heiter aus der verkrusteten Schnauze. „Du musst eingeschläfert werden.“