Charlie überlegte sich wie spät es wohl schon sein mochte und versuchte sich in dem engen Schacht in eine angenehmere Position zu bringen, ohne dabei einen Heidenlärm zu verursachen; etwas, das in dem mit Chromstahlwänden umgebenen Ventilationsschacht ohnehin schon schwierig genug gewesen wäre, auch ohne die Spasmen, die bei jeder Art von Aufregung noch unkontrollierbarer wurden. Ein dunkler Klang raunte durch seine Ohren, als er mit einer seiner schweren Schuhsohlen an das Blech stiess und der junge Mann fürchtete sich, dass jeden Moment jemand das Gitter aufbrechen und ihn auf den feuchten Boden der Waschküche ziehen würde. Niemand kam. Als Charlie sich wieder beruhigt hatte, zog er seine Taschenuhr aus der linken Tasche seiner Cordhose und zählte dann konzentriert die einzelnen Striche des Ziffernblattes, wiederholte den Prozess drei Mal und stellte dann fest, dass es nur wenige Minuten vor zwei Uhr nachts sein musste. Er hatte kurz Schwierigkeiten damit, sich aus dem Schacht zu befreien und kaum war er im Freien, streckte er seine müden Gliedmassen in alle Richtungen und gähnte etwas zu laut, so dass er sich sofort schuldbewusst den Mund zuhielt. Im Hintergrund konnte er das Rauschen der Abflussrohre hören, die Luft war noch immer stickig und feucht von der Wäsche und in dem schummrigen Licht, das durch das Kellerfenster fiel, wirkten die hoch aufgeschichteten Kartons wie mächtige Hochhäuser, die sich schemenhaft von der schimmligen Wand absetzten. Charlie hob zwei der obersten Kisten auf und stellte sie unachtsam auf den Trockner, so dass eine Box beinahe runtergefallen wäre. Hurtig schob er sie weiter nach hinten, wischte sich theatralisch über die Stirn und seufzte laut, währendem er sich an der Maschine entlang langsam auf den Boden gleiten liess. An die Waschmaschine gelehnt blickte er abwesend auf die verzerrten Schatten der Wäscheleine und erinnerte sich daran, dass er beim Besuch im Kunstmuseum ein Bild gesehen hatte, das diesem gruseligen Schattenwesen glich.
Charlie war vor beinahe dreizehn Jahren eingezogen, davor hatte er in einem Heim für geistig behinderte Kinder gewohnt und er war froh gewesen, dieses viel zu laute Heim mit seinen viel zu fröhlichen Betreuern endlich verlassen zu können. Die erste Zeit hier war aufregend und wirklich sehr schön gewesen und obwohl er seine Kindheitsfreunde manchmal vermisste, dauerte es nicht lange, bis er sich hier eingelebt hatte. Ja, sogar an die Besuche im Institut für Nanotechnologie, wo man ihn und die anderen Heimbewohner teilweise über Stunden untersucht hatte, wurden bald zur willkommenen Abwechslung von der alltäglichen Routine. Charlie war ein einfacher Mensch und als solcher war er mit seinem Leben, so wie es bis vor einigen Monaten gewesen war, zufrieden und glücklich. Aber es gab nicht viele, die ihn mit demselben Respekt behandelten, welchen sie ihren anderen, nicht behinderten Mitmenschen entgegenbrachten und gerade weil er in seiner Ausdrucksweise stark eingeschränkt war, war er auf die Hilfe anderer angewiesen, um seine Gedanken mit seinem Umfeld teilen zu können. Als er zum ersten Mal vor dem Computer gesessen war, seine Hand fest von Pias umschlossen, hatte er noch nicht ahnen können, wie sehr sich sein Leben verändern würde und so hatte er die ersten FC*-Sitzungen nur auf die elegante Buchstütze gestarrt, die als einziges nicht „Behindertenheim“ schrie, sondern so aussah, als hätte man sie in einem Büro finden können. Irgendwann hatte ihm Pia aber deutlich gesagt, dass sie nicht hier sitzen würden um „Löcher in die Luft“ zu starren, sondern weil sie mit ihm sprechen möchte, eine Aussage die ihn zu dem Zeitpunkt so sehr amüsierte, dass er hämisch loslachte. „Charlie, ich weiss das in deinem Kopf vieles steckt und ich möchte diese Seite von dir kennenlernen.“, hatte sie ihm erklärt und auch wenn er skeptisch war, nicht sicher ob ihr Interesse aufrichtig war, wollte er diese Chance nicht ungenutzt ziehen lassen und so lernte er innerhalb weniger Wochen, wie er seine Worte über die Tastatur in das Bewusstsein seiner Gesprächspartnerin bringen konnte. Und tatsächlich, Pia war nicht eine dieser pseudomotivierten Betreuerinnen, deren einziges Ziel es war, sich selbst durch die Arbeit mit den „weniger Glücklichen“ aufzuwerten, ihr Interesse an ihm und dem, was er zu sagen hatte war echt. Mit der Hilfe seiner Vertrauten blühte Charlie auf; zuerst hatte er nur Belanglosigkeiten geschrieben, bald teilte er seine Meinung und sogar seine geheimsten Gedanken und irgendwann, als die Gesprächsthemen abzuflauen drohten, begann er Kurzgeschichten zu schreiben. „Vielleicht können wir die veröffentlichen“, hatte ihm Pia vorgeschlagen und gleich damit begonnen, verschiedene Verlage zu kontaktieren. Das war vor vier Jahren gewesen und nun standen drei Bücher mit seinem Namen auf dem Umschlag neben derselben Buchstütze, die schon seit dem Beginn dabei gewesen war.
Erneut griff Charlie nach seiner Taschenuhr und zählte die Striche. Es war viertel vor drei und wenn er seinen Plan in die Tat umsetzten wollte, dann würde er bald handeln müssen. Also wandte er seinen Blick vom Schattenwesen ab, erhob sich und wühlte zielstrebig in einer der Kisten, bis er das Gemüsemesser fand, welches er vor drei Wochen hier versteckt hatte und nach dem der Wohnheimleiter, der, wenn man den Lästereien der Betreuerinnen glauben wollte, ein schwerer Alkoholiker war, schon verzweifelt gesucht hatte. Bis heute hatte er nicht verstanden, warum Pia hatte gehen müssen, war sie doch nicht diejenige, die etwas Schlimmes getan hatte. Im Gegenteil, denn sie war die einzige, die ihnen hatte helfen wollen, ja die einzige, die ihm überhaupt gesagt hatte, dass das was geschah nicht geschehen musste. Denn bis zu diesem Gespräch im letzten Juni hatte Charlie einfach angenommen, dass die nächtlichen Besuche normal wären, dass die unangenehmen Annäherungen einfach ein Teil des Lebens waren und dass jeder davon gewusst hatte. Doch Pias Entsetzen war gross, als er sich zum ersten Mal darüber geäussert hatte und danach ging alles wahnsinnig schnell: Pia wurde unter irgendeinem Vorwand entlassen und der Computer war gleich am nächsten Tag aus dem Pausenraum verschwunden. Beraubt von seiner einzigen Kommunikationsmöglichkeit verstummte Charlie wieder, einen Zustand den er nicht mehr länger ertragen wollte.
Charlie verabschiedete sich von seinem Schattenfreund und legte die Uhr, welche er von Pia bekommen hatte, in eine der Keramikschüsseln auf dem wackeligen Kellerregal, währendem er mit einem leisen Murmeln versuchte, beruhigend auf sich selbst einzureden: „Es wird alles gut, Charlie. Alles wird wieder gut.“ Er umklammerte den hölzernen Griff des Gemüsemessers, als er aus der Waschküche trat, um in die obere Etage zu gehen und er musste nur den erschöpften Schreien Martinas folgen, um das richtige Zimmer zu finden. Alles ging schnell und da war viel mehr Blut als er erwartet hätte. Als er fertig war rannte Martina aus dem Raum, ohne sich bei ihm zu bedanken. Sie wusste es noch nicht, doch er wollte ihr trotzdem helfen und da man ihm seine Stimme wieder genommen hatte, blieben ihm nur seine Hände.