Albert schnaufte tief durch, kaum hatte Mareike die Beifahrertür geöffnet. Nirgendwo auf der Welt roch es so gut wie auf dem Ponyhof, ganz besonders im Winter, wenn sich der Schneeduft mit den würzigen Dämpfen von Pferdeschweiß und dem Misthaufen vermischte. Am frühen Nachmittag kratzte die Sonne bereits an den Bergen, die Tage vergingen, bevor sie richtig begannen, umso ungeduldiger war er, endlich zu seinem besten Freund zu kommen.
„Albert, stopp“, hielt Mareike ihn auf und umfasste sein Handgelenk. Normalerweise wurde er von einer anderen Betreuerin, Iwana, zum Reiten gefahren, die mochte er lieber. Albert durfte sich seine Begleitung nie aussuchen, das hatte er mittlerweile akzeptiert, auch wenn es ihm schwergefallen war. Ebenso hatte er gelernt, die ständigen Berührungen zu tolerieren, zumindest meistens, denn hin und wieder passierte es ihm, den Teufel in seinem Gehirn zu vergessen, der sich mit Beißen und Treten gegen das Getatsche der Betreuer zur Wehr setzte. „Wir ziehen rasch die Maske über, okay?“ Bereitwillig drehte er sich um und bückte sich, damit Mareike ihm die Hygienemaske über Mund und Nase legen und die Gummibändchen hinter den Ohren justieren konnte. Sie war vielleicht zweieinhalb Köpfe kleiner als er, sowieso gab es niemanden in seinem Umfeld, zu dem er sich nicht herunterbeugen musste. „Prima. Danke dir“, sagte die Kurzhaarige und tätschelte seinen Unterarm. „Dann wollen wir mal.“
Schwingenden Schrittes marschierte Albert zu den Stallungen, je näher er den Pferden kam, desto befreiter und lauter wurde sein Lachen. Der Eingang stand ein Stück offen, gerade weit genug, dass er sich hindurchquetschen konnte. Die Luft im Inneren war vom Atem der Tiere aufgeheizt, wurde vom Heuboden isoliert, daran gehindert, einfach in den kaltgrauen Himmel zu steigen.
„Ach, hallo Albert, wie geht es dir?“ Olafs Begrüßung war stets dieselbe, eine Frage, dessen Antwort ihn vermutlich wenig interessierte, obschon der Reitpädagoge außerordentlich begabt darin war, sie aufrichtig klingen zu lassen. Quietschend öffnete sich das Tor und Mareike, die nun ebenfalls eine Maske trug, trat ein. Trotz ihrer ständigen Meckerei, sie ersticke unter dem dünnen Stofffetzen, schlenderte sie scheinbar entspannt durch die Stallgasse. „Wartest du bei Teddy auf mich? Ich rede noch kurz mit Mareike“, schlug Olaf vor und klopfte ihm auf die Schulter. Albert blickte auf die Schuhspitze des anderen, nickte und schob sich ungeschickt an ihm vorbei. Er wusste sehr genau, worüber die beiden sich unterhalten wollten, seit Monaten gab es eigentlich kein anderes Thema mehr unter den Betreuern. Natürlich glaubten sie, weder Albert noch seine Mitbewohner im Behindertenheim verstünden, was los war. Das war meistens so, egal worum es ging.
Kurz vor der Tür zum Sattelstübchen blieb Albert stehen und fingerte am Elastikband herum, weil Mareike es ihm etwas schräg übergestreift hatte. Schließlich wandte er sich nach links, wo Teddy den Kopf aus der Box herausstreckte und ihn verwundert anschaute.
‚Hallo Teddster‘, dachte er zu dem Pony, das gutmütig schnaubte. Teddys Fell war mehrheitlich schwarz, abgesehen von einem großen weißen Fleck auf der Kruppe, der die Form eines Bärchens hatte. ‚Guck, ich habe das komische Ding immer noch.‘ Selbstverständlich störte sich sein bester Freund nicht daran, überhaupt fand Teddy es unwichtig, wie jemand aussah, selbst die ganz dicken Leute, die ihm manchmal Rückenschmerzen bereiteten, waren ihm recht. Albert streichelte sachte seine Nüstern, kitzelte das eine Nasenhaar, das dort wucherte und seufzte. Teddys Haut war unvergleichlich weich, strahlte eine Wärme aus, die ihn an Großmutters Eintopf erinnerte, der jede Erkältung im Nu kurierte. Leider war seine Oma vor einigen Jahren gestorben, ansonsten hätte sich die Sache mit der Pandemie längst erledigt. ‚Omama fehlt mir‘, erzählte er seinem vierbeinigen Therapeuten und pulte sich eine Schlaflaus aus den Wimpern. Es hatte lange gedauert, bis er von ihrem Tod erfuhr, jemandem wie ihm traute man schlimme Nachrichten nicht zu, oft wurde er behandelt wie ein Kind, das kaputtgegangen war. Dabei war Albert jetzt dreiundvierzig, hatte eine Frisur wie eine Bowlingkugel und einen erhöhten Cholesterinspiegel.
„So, Albert, da bin ich.“ Erneut fasste Olaf ihn bei der Schulter, drückte ein wenig zu und schob ihn von Teddy weg in Richtung der Sattelkammer. „Holen wir den Longiergurt und die Decke, was meinst du?“ Mit einem Grunzen stimmte Albert zu, wand sich ungelenk unter der Hand weg und trottete zum Geschirr, um es vom Bock zu nehmen. „Nana, du hast es aber eilig“, feixte der Reitpädagoge und zog seine Maske aus, ehe er Albert beim Herunterheben behilflich war und sich anschließend an dessen Gummibändern zu schaffen machte. „Die ziehen wir aus, wir sind ja nicht beim Maskenball.“
In Alberts Nacken bildete sich ein winziger heißer Knoten, der erst hellblau, dann gelb leuchtete. ‚Lass mich‘, knurrte er innerlich. ‚Ich will die aufbehalten.‘ An jedem Tag gab es mindestens einen Moment, in der er sich sehnlichst wünschte, die anderen könnten ihn so hören, wie Teddy das tat. Es gab so vieles, das er sagen wollte, doch stattdessen blieb ihm nur übrig, darauf zu hoffen, sein Gegenüber würde seine Mimik korrekt deuten. Mit Olaf hatte er heute kein Glück, der zupfte nämlich weiter grinsend an den Bändchen, bis sie über Alberts Ohrmuschel flutschten und die Maske auf dem Boden landete. Plötzlich glühte der Knoten in grellem Neonrot, der Teufel entwischte und rannte mit vollem Tempo los, riss eine Schneise durch sein Gehirn und knallte direkt zwischen den Augenbrauen von innen gegen den Schädel. Da war er geschehen, Teddy wieherte empört und Albert verlor die Kontrolle, schubste Olaf mit ganzem Körpereinsatz von sich weg und biss sich herzhaft in den eigenen Handrücken.