„Sind alle da?“, fragte Eberhard Schulz tippte ein wenig verloren auf dem Tablet herum. Aus den Reihen seiner Arbeiter tönte jemand: „Ich glaube, ja.“ Es war eine ganze Weile her, seit er als Schichtleiter seine Runden durch die Fabrikationsstätte gemacht hatte – es half ja nichts, wenn alle krank waren, packte halt der Firmenchef höchstpersönlich mit an.
„Prima. Also kann es losgehen.“ Er hatte den Betrieb vor knapp zwei Monaten von Jeremias Marmet übernommen. Dieser war kurz nach Antritt seiner Pensionierung verstorben, ein Herzinfarkt soll es gewesen sein. Es wurde gemunkelt, ein Nachbar habe ihn neben der Toilette liegend gefunden, mehr brauchte Eberhard gar nicht zu wissen. „In Hallen Eins, Drei und Fünf läuft es wie gewohnt“, erklärte er und murmelte Flüche vor sich hin. „Scheiß Ding!“ Der verflixte Bildschirm flackerte, die veralteten Geräte im Betrieb brachten ihn regelmäßig zur Weißglut. Jeremias hatte ihn beim Apéro seiner Ruhestandsfeier gewarnt, nicht nur vor der umständlichen Technik und den Überstunden. Er war der Überzeugung gewesen, die Spitzenposition im Keksgeschäft würde den Charakter verderben, wie ein faules Ei den Teig. Reiner Blödsinn, da war sich Eberhard sicher. Zudem hatte er keineswegs vor, sich zufriedenzugeben, auf der Karriereleiter lagen noch etliche Sprossen vor ihm. „Okay, jetzt“, nuschelte er frustriert. „In Halle Vier werden die die letzten Quarkstollen der Saison verarbeitet und …“ Er hustete in die Ellenbeuge, entschuldigte sich und adressierte schließlich die Leute aus Halle Zwei: „In der Zwei stellt ihr auf Vanillekipferl um. Ihr habt alles zum Anfangen und ich komme später zur Kontrolle.“ Sie befanden sich im Weihnachtsendspurt, da durfte nichts dem Zufall überlassen werden. „Und für diejenigen, die den Newsletter noch nicht gelesen haben: Dieses Jahr gibt es kein Weihnachtsgeld.“ Einige nickten wortlos, andere brummten mürbe, eine Überraschung war es allerdings für niemanden. „Gut. Schichtbeginn.“ Er klatschte in die Hände, dann verteilten sich die Teams in alle Himmelsrichtungen und Eberhard Schulz blieb allein im Aufenthaltsraum der Keksfabrik zurück.
Er pfefferte sie Tür zwischen Halle Vier und Fünf ins Schloss und schritt energisch an den Förderbändern vorbei zur Hauptkonsole. Paula Klein vertrat gleich zwei ihrer Vorgesetzten, die vielen Krankschreibungen mussten eben irgendwie kompensiert werden.
„Kommen wir bis Schluss mit allem durch?“, verlangte er ohne Umschweife zu erfahren. Die Angesprochene zuckte zusammen, vermutlich hatte sie Eberhard nicht kommen gehört. Sie sah aus wie ein Geist, hing mehr auf ihrem Schemel, als sie saß, und schaute ihn verdutzt an, ehe sie zaghaft hervorbrachte: „Ich, nun, es könnte schwierig werden, weil, ähm, weil es Probleme mit dem Magerquark gab, die Konsistenz ist …“
„Ach, papperlapapp“, fuhr er sie an und zog die Brauen tief. „Ausreden dürfen Sie sich sparen, Frau Klein. Die Stollen müssen heute noch übers Band. Mischen, Backen, eintüten, etikettieren, verpacken – daran ist nichts schwierig.“ Er gestikulierte auf die übermüdete Frau vor sich und blaffte naserümpfend: „Setzten Sie sich ordentlich hin und dann zack-zack, trödeln Sie nach Feierabend.“
„Ich, ähm“, stotterte sie und richtete sich auf. „Herr Schulz, wir geben unser Bestes.“
„Sehen Sie zu, dass Ihr Bestes gut genug ist“, zitierte er seinen Vater, dem er es zu Lebzeiten nie hatte rechtmachen können. Er hatte es weiß Gott nicht leicht gehabt, war streng, es ließe sich sogar behaupten, erbarmungslos erzogen worden. Geschadet hatte es ihm aber kaum. Seiner Schwester hingegen war es anders ergangen und manchmal erwischte er sich dabei, ihr hinterherzutrauern. „Enttäuschen Sie mich nicht.“ Damit drehte er sich um und marschierte schnurstracks auf die nächste Durchgangstür zu. Das weinerlich gestammelte „Jawohl“ von Frau Klein ignorierte er absichtlich, für ihre Mitleidshascherei hatte Eberhard keine Geduld. Wer es zu etwas bringen wollte, ließ sich von nichts aufhalten – weder von zu dünnem Magerquark noch von alberner Sentimentalität.
„Herr Schulz“, begrüßte ihn Ben Kravis, als Eberhard Halle Zwei betrat. Er war ein guter Kerl, ein anständiger noch dazu. Er hatte letzte Woche seine dritte Tochter bekommen. Seine Frau lag noch im Wochenbett, an Bens Arbeitsmoral gab es dennoch nichts zu beanstanden, sehr zu Eberhards Leidwesen. Bei einem schludrigeren Mitarbeiter wäre es einfacher, dessen Lohnerhöhungsantrag abzulehnen. „Wir sind gut in der Zeit“, meinte Ben zufrieden und streckte seinem Chef grinsend zwei erhobene Daumen entgegen. „Die erste Ladung Kipferl ist bereits in der Packstation.“
„Das will ich hoffen. Wir wollen zusehen, dass unser Bestes gut genug ist“, erwiderte Eberhard, für unnötige Freundlichkeitsfloskeln hatte er wenig übrig. Ihm war nicht daran gelegen, gemocht zu werden, auf Respekt kam es ihm an. Nebenbei bemerkte er einen kleinen Fussel auf Bens Arbeitshemd. „Weitermachen.“ Bei genauerem Hinsehen entdeckte er die Staubmäuschen überall auf dem Hallenboden. Ächzend zückte Eberhard sein Tablet und notierte, dass er morgen früh ein ernstes Wörtchen mit dem Leiter des Putzdienstes reden musste – das hier war eine Großkonditorei, kein Schweinestall! Gerade als er gehen und sich in seinem Büro einen Kaffee gönnen wollte, störte Ben ihn mit einem schüchternen Räuspern.
„Boss, haben Sie sich schon entschieden?“ Es war immer die gleiche Leier, klönte Eberhard innerlich und ächzte laut: „Es tut mir leid, Herr Kravis, ich kann Ihnen zu dem Zeitpunkt nicht entgegenkommen.“
„Oh“, machte der junge Vater sichtbar enttäuscht. Wahrscheinlich würde er ihm gleich irgendetwas von der Zahnspange für die Älteste, Reitstunden für die zweite und einer Krippe für die Kleinste vorjammern, doch zu Eberhards Erstaunen sagte Ben: „Schade. Ich danke Ihnen, dass Sie es sich überlegt haben.“ Er klopfte ihm auf die Schulter und lächelte milde. „Weihnachten mit selbstgemachten Geschenken hat ja auch was.“
„Im Grunde ist er ein armer Tropf“, gab Ben zu Bedenken, woraufhin Paula missmutig lästerte: „Armut ist das einzige, das man dem bösartigen Kerl nicht vorwerfen kann.“ Ihre Stimme dröhnte wie ein Nebelhorn durch den Flur, offensichtlich hatte sie sich bei der Arbeit genügend ausgeruht, zumindest war sie in der Pause wieder putzmunter. Eberhard knurrte empört und riss sich fünf Blatt Toilettenpapier ab. Er hatte ganz vergessen, wie hellhörig die Angestelltentoiletten waren. Früher hatten seine Kollegen und er sich oft einen Spaß daraus gemacht, sich gegenseitig beim Pinkeln zu erschrecken – mit vorhersehbaren Resultaten für den Putztrupp. „Bonus gestrichen, Gehaltserhöhung für dich nicht drin und natürlich werden meine Überstunden nie kompensiert – es ist zum Kotzen“, nörgelte Paula, holte tief Luft und spie aus: „Wenn der auch auf dem Scheißhaus verreckt, lach’ ich mich krumm.“ In ihm kochte die Wut hoch. Selbstverständlich war Eberhard klar, dass er keinen Beliebtheitswettbewerb gewönne – so war das halt, ein erfolgreicher Mann verbreitete Furcht und Neid, statt fröhlicher Weihnachtsstimmung – mit einer derartigen Frechheit hatte er trotzdem nie gerechnet.
„Na, mir eigentlich egal, was mit dem passiert“, seufzte Ben. „Hauptsache, wir werden ihn los. Dem trauert keiner hinterher.“ Seine Wangen glühten förmlich, als er seinen Hintern abwischte, beim Hochziehen der Hose begann er damit sich gemeine Formulierungen für die Kündigungsgespräche mit den beiden auszudenken und in dem Moment, als er die Türklinke anfasste, im Begriff war, aus der Toilette zu stürzen und loszubrüllen, hörte Eberhard wie Paula ihn nachäffte: „Sehen Sie zu, dass Ihr Bestes gut genug ist.“
„Die dumme Tour“, grölte Ben und Eberhard hielt inne. „Dabei ist er der Einzige, der in seiner Rolle völlig versagt. Eine Schand…“
Das Gespräch löste sich in unverständliches Rauschen auf. Eberhard wurde mulmig, da hockte plötzlich ein Zementsack auf seiner Brust und noch bevor er seine Lektion lernen konnte, ja, überhaupt begriff, dass es eine Lehre gäbe, kippte er zur Seite und prallte auf den dreckigen Fliesenboden. Und während er neben der Toilette liegend still, völlig überstürzt und unzeremoniell an seinem Herzinfarkt verstarb, wartete seine persönliche Weihnachtsgeschichte vergeblich auf die schönen Worte: Ende gut, alles gut.