Du stehst in der leeren und kaum beleuchteten Kletterhalle, mitten in dieser lauen Sommernacht, während der Mond nur selten zwischen den Wolken auftaucht, um sein Licht für einige Augenblicke durch die Oberlichter fallen zu lassen. Ein minutiös aufgeräumter und gereinigter Raum, vorbereitet für die Sportler und Familien mit Kindern, die sich jeweils am Tag hier tummeln. Behutsam, ja schon beinahe bedächtig, legst du deine elegante Brille zur Seite, einerseits damit sie dich beim Klettern nicht behindert, doch vor allem, weil sie viel zu teuer gewesen ist, um sie aus Versehen fallenzulassen. Es ist doch ein gutes Gefühl, dass dir eine Kletterhalle gehört, oder etwa nicht? Ja, dir gehört das halbe Viertel, von dem mit illegal weggeworfenen Abfällen verschmutzen Fluss, neben welchem die Untergrundbahn lärmend über eine Brücke donnert und die Hunde in den Hinterhöfen spielen, bis hinunter zu dem breiten Boulevard. Und eben an jenem baumgesäumten Boulevard, auf welchem eigentlich nur die flanieren, die es im Leben zu etwas gebracht hatten, steht das Gebäude, in welchem dein Loft liegt. Ja, du hast dich an die Spitze hochgearbeitet, hast deinem alten Viertel den Rücken gekehrt doch bist du gleich nebenan geblieben, mit einer atemberaubenden Sicht auf den großen Park, in dem die Jogger und die Eltern mit Kinderwagen ihre Runden drehen. Doch du hast diese Gegend nicht vergessen, nein, du kommst sogar jede Nacht zum Klettern her, aber das ist nicht das, was alle hier von dir wissen. Manchmal bist du auch am Tag hier, als König des Blocks, in dem noch das Gesetz der Straße regiert und von einen Besitz ergreift, sobald man mehr als nur eine Woche in einem der modrigen und überteuerten Apartments verbringt. Du bestimmst hier nicht nur über die Drogendeals und Prostitution sondern hast überall das Sagen, von den Gemüsehändlern bis hin zu den Mechanikern gehorchen sie dir alle. Noch ist dir nicht bewusst geworden, dass du dir mit der Zurschaustellung deiner Macht neidische Gegner gemacht hast, die bloß auf eine günstige Gelegenheit warten, deinen Platz einzunehmen. Du beginnst mit ein paar harmlosen Dehnübungen um dich aufzuwärmen und für die allnächtliche Kletterpartie vorzubereiten.
In all den Monaten, welche du nun schon diese Wand hoch kletterst, bist du erst ein dutzend Mal nicht abgerutscht, bevor du oben angelangt bist. Vielleicht hattest du einfach nicht genug Zeit, vernünftig zu trainieren und vielleicht hattest du auch nicht die Geduld dazu. Möglicherweise liegt dir dieser Sport einfach nicht, was erklären würde, warum du ihm immer in der fortgeschrittenen Nacht, nach deinem Besuch in dem Club, nachgehst, wenn niemand mehr da ist, um dich zu beobachten. Nun greifst du nach dem ersten Stein, zögerst kurz und siehst dich unruhig um. Hast du in den, in der Dunkelheit verschwindenden, Tiefen der Kletterhalle etwas gehört, das dich verschreckt hat? Ein Poltern oder Rumpeln vielleicht? Nein? Nun gut, dann klettre weiter.
Als König des Blocks erinnerst du dich häufig an deinen Werdegang, wohl öfter als dir selbst lieb ist. Du denkst daran zurück, wie du vor einigen Jahren das Haus deines größten Konkurrenten dem Erdboden gleich gemacht hast, mitsamt ihm und seiner ganzen Familie, die darin gelebt hatte. Die Ermittler glaubten, dass die Steckdose, vor welcher du den Brandbeschleuniger (wahrscheinlich Azeton) ausgeleert hattest bevor sich alles in Rauch auflöste, die Brandursache gewesen ist. Denn auch wenn es niemand auszusprechen wagte, jeder in diesen Straßen wusste, dass du nicht grundlos plötzlich zum großen Mann in diesem Quartier geworden bist und die Schneekugel aus ebendiesem Haus, welche nun auf deinem Schreibtisch steht, spricht in dieser Sache mehr als tausend Worte.
Jeder Sieg hat seinen Preis und du musstest für deinen Sieg nicht alleine bezahlen. Um zu siegen, hast du einen Krieg geführt, der nicht mit Panzern und RPGs ausgetragen wurde, sondern mit SUVs und MAC-10-Maschinenpistolen und das nicht in einem fernen Wüstenstaat, sondern gleich hier, in deinem Block, mit deinen Leuten. Und du hast ihn gewonnen, den Krieg. Und wenn du dich an das Ende dieses Krieges erinnerst, denkst du vielleicht auch daran, was deine Gegner schon alles mit dir angerichtet haben, wie viele deiner Leute schon in den Straßen in ihrem eigenen Blut lagen, durchsiebt von den Kugeln aus automatischen Waffen. Wie viele davon waren aus deiner Familie, mit wie vielen von ihnen bist du gemeinsam aufgewachsen, hast Baseball mit ihnen gespielt? War es der Block wert? Natürlich kennt jeder deine Antwort, denn da wo du jetzt stehst, kannst du nur eine gültige Antwort geben. Und du hast sehr schnell begriffen, dass man einem Krieg seinen Tribut zollen muss, dass der Sieg seinen Preis hatte. Doch du wirst nie vergessen, denn hinter deiner harten Fassade, die du genauso dir selbst wie den anderen vorgaukelst, wirst du immer die Stimmen der Toten hören, welche dir Vorwürfe machen – und genau das macht dich schwach, denn gewinnen kannst du nur, wenn du nichts zu verlieren hast.
Deine Hände greifen zuversichtlich nach dem nächsten Kletterstein, beinahe hast du schon die Hälfte geschafft. Langsam überkommt dich wieder die Selbstsicherheit, die immer wieder zu deinem Verhängnis wird. Jeder gute Kletterer weiß, dass er abrutschen kann, du hingegen begreifst offenbar nie rasch genug, dass du deinen Fokus beibehalten solltest, wenn du dich deinem Ziel näherst, anstelle davon in deinem Geist eine vorschnelle Siegesparade losmarschieren zu lassen. Nicht jeder Erfolg lässt sich mit brachialer Gewalt erzwingen, nein, einige Dinge erfordern mehr Feingefühl, mehr Hingabe, mehr Geduld und vor allem mehr Intellekt, als du dir vorstellen kannst.
Nun, du weißt vieles nicht. Du weißt offenbar nicht, wie man sich auf etwas so sehr konzentrieren kann, sodass man auch über längere Zeit die Kontrolle behält. Du weißt noch nicht, dass in wenigen Augenblicken, wenn der unvermeidbare Fall kommt, deine Sicherungsleine reißen wird und du ungebremst in den Abgrund stürzen wirst. Vielleicht – wenn dir vor dem Schmerz, der sich unvermeidbar einstellen wird, noch Zeit dazu bleibt – wirst du darüber nachdenken, wer einen solchen Akt der Sabotage begehen könnte, wer dich so gerne tot sehen wollte. Und du weißt noch nicht, dass in einer dunklen Ecke dieser Kletterhalle in der Tat jemand auf dich wartet, jemand mit einem kalten Stahl in der Hand, bereit, dein Regime ein- für allemal zu Ende zu bringen.
Du kennst doch dieses wohlige Gefühl, wenn du nach einem langen Tag endlich entspannt ins Bett liegen und dich erholen kannst, dich zudeckst und langsam eindöst, in eine Traumwelt abdriftest? Nun, das wirst du heute Nacht sicher nicht spüren und danach schon gar nicht mehr. Dein Leben, deine Realität wird in Stücke gerissen werden und im selben brachialen Stil, in welchem du deinen Block regiert hast, wirst du ihn (und die Welt) auch wieder verlassen; beinahe schon symbolträchtig, doch du würdest die Ironie darin nicht zu schätzen wissen, oder? Was du gedacht, gefühlt hast und an was du dich erinnerst, wird in einigen Sekunden mit dir verschwinden und wenn dein lebloser Körper von den Forensikern fotografiert wird, wird dieser Block nicht mehr dir gehören, dein Andenken wird bloß noch eine verblassende Kreidemarkierung auf dem Hallenboden sein. Denn es gibt etwas, das du in all den verstrichenen Jahren vergessen hast: Egal wie solide ein Thron ist, manchmal gerät er schneller ins Wanken, als man denkt und das Zeitalter der Dinosaurier neigt sich unerbittlich seinen Ende zu. Du wirst nicht mehr da sein, um meinen Werdegang zu erleben, der geplanter, effizienter und rascher vonstattengehen wird, als du es dir je hättest träumen können, ohne Krieg, Zeichen von Schwäche oder gar Reue. Du kennst mich nicht, doch ich kenne dich ganz genau, denn dies ist jetzt mein Block und heute Nacht werde ich ihn mir ein- für allemal holen.