Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Obwohl diese Geschichte auf einer wahren Begebenheit basiert, sind die Figuren und Namen frei erfunden.
„Schnellzug nach Oberdorf, alle einsteigen!“, rief der Bahnhofsvorstand über den Bahnsteig und Herr Müller eilte zum zweiten Wagen hinter der Lokomotive, ehe er die Stufen erklomm. „Jedes Mal bleibe ich zu lange im Bahnhofrestaurant sitzen“, murmelte er in seinen Bart. Noch leicht außer Atem wischte er die Krümel seines Croissants vom Wintermantel und schritt durch den Seitengang des Wagens auf der Suche nach einem freien Sitzplatz. Nachdem er an mehreren bereits besetzten Abteilen vorbeigekommen war, hielt er inne. Er hatte ein bekanntes Gesicht entdeckt und öffnete die Abteiltür. „Frau Schmid, ist da noch einer frei?“
Die Bäckerin ihres kleinen Ortes sah von der Zeitung auf und machte eine einladende Geste. „Bitte, Herr Müller. Ist echt kalt draußen, was?“
Ruckelnd kam die Eisenbahn in Bewegung und Herr Müller setzte sich ungelenk, als der Zug die erste Weiche befuhr. „Oh, und wie. Dafür ist der Schnee ein schöner Anblick“, meinte er und schaute auf die weiße Ebene hinaus, die vor dem Fenster vorbeizog. Der Express hatte mittlerweile den Bahnhof verlassen und rollte in die erste von vielen Kurven, als Frau Schmid die Stille brach. „Na, was bringt Sie nach Oberdorf, Herr Müller? Machen Sie Ihre Einkäufe?“
„Ja, ich brauche Tinte und eine neue Feder, muss man als Buchhalter stets zur Hand haben. In unserem Kuhdorf gibt es leider keine Papeterie. Und was ist mit Ihnen?“
„Dienstags steht für mich der Wochenmarkt an“, sie lehnte sich zurück, während die Dampflok laut pfeifend in einen Tunnel fuhr. „Ich habe noch einige Besorgungen zu erledigen, ich brauche Kartoffeln, der Kohl wird knapp und der Essig geht langsam zur Neige. Und jetzt, da es so kalt ist, will ich zur Wintersaison unbedingt Erdnüsse.“
„Füttern Sie etwa die Eichhörnchen im Wald? Das würde erklären, wieso die dieses Jahr so fett sind“, feixte Herr Müller und Frau Schmid nickte. „Ja, ich bin es, die sie füttert, jemand muss sich um die armen Dinger kümmern. Ich vermute, die meisten von den Nüssen vergraben sie und vergessen dann, wo sie sind.“
Kaum tauchte der Zug aus dem Tunnel auf und hatte Herr Müller genug Licht, prüfte er seine Taschenuhr. „Oh, wir sind pünktlich. Nicht so wie gestern, da war die Strecke ganze zehn Minuten blockiert.“
Frau Schmid zog eine Augenbraue hoch. „Schon wieder? Die Bahn sollte endlich etwas gegen Tiere auf den Gleisen unternehmen. Allein diese Woche gab es drei Verspätungen deswegen.“
„Ja, manchmal kommen sie vom Gebirge runter und schlafen auf dem Bahndamm.“ Er streckte sich und fügte schmunzelnd hinzu: „Natürlich ausgerechnet dann, wenn ich einen wichtigen Termin habe. Tja nun, was will man tun? Mit einem Raubtier von diesem Kaliber legt sich keiner an, da heißt es halt, geduldig zu warten. Meist steht es von selbst auf und geht seines Weges.“
„Da haben Sie Recht.“ Frau Schmid linste durchs Fenster und zeigte auf die Gebirgskette. „Da. Ganz oben rechts liegt eines der Biester. Es schläft. Sie sehen beinahe niedlich aus, solange sie nicht den Bahnverkehr behindern.“
„Stimmt“, pflichtete Herr Müller ihr bei und zündete seine Pfeife an. „Kollidiert sind wir noch nie mit einem, wir haben wirklich gute Lokführer auf dieser Strecke. Wissen Sie, ich habe in all den Jahren nur eine Entgleisung erlebt, damals, als wir mit dem Regionalzug über den Prellbock hinausfuhren. Das war eine üble Geschichte, ein Wagen ist sogar umgekippt. Zum Glück kam niemand zu Schaden.“
„Oh, ich erinnere mich, das ist lange her. Ich glaube der Sachschaden war gering, der Schnellzug fuhr an diesem Tag schon wieder normal. Wenn nicht gerade das Gleis blockiert ist, ist die Bahn sehr zuverlässig.“
„Ja, das kann man wohl sag… Oh“, unterbrach er sich, als von der Lok her ein feuchtes Platsch-Geräusch erklang und ihr Fenster binnen Sekunden mit einer braunen Pampe verschmiert war. Mit kreischenden Bremsen kam der Express in der Ebene, weitab vom Bahnhof, zum Stehen. Verwirrt sahen die beiden Reisenden aus dem verklebten Fenster, aus dem nichts mehr zu erkennen war. „Grundgütiger! Durch was um Himmels … um Himmelswillen sind wir gefahren?“, stammelte Frau Schmid und Herr Müller zuckte ratlos mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich denke, so schnell geht die Reise nicht weiter, erst muss der ganze Zug gereinigt werden.“
„Sowas aber auch“, seufzte sie. „Na ja, immerhin sind wir mit dem Schrecken davongekommen.“
„Das darf doch nicht wahr sein“, murrte Mara und ließ sich auf den weißen Hochflorteppich fallen. „Himmel!“ Frustriert rappelte sie sich auf und brüllte: „Mama! Kannst du mir bitte helfen?“
„Was ist denn, Schatz?“, wollte ihre Mutter wissen und kam aus der Küche ins Wohnzimmer.
Mara deutete auf den Schauplatz des Desasters: „Max hat Katzengras gefressen und auf mein Modellbahngleis gekotzt. Siehst du? Ich bin mit der Lok und vier Wagen durch die Sauerei gefahren!“
Der Mutter war anzusehen, dass sie nicht wusste, ob sie lachen oder genervt stöhnen sollte. Schließlich bekam sie ihre Mimik in den Griff und meinte resigniert: „Ich hole Haushaltspapier und einen Lappen. Hoffen wir, dass nichts ins Getriebe der Lok gekommen ist, dann kriegen wir das bestimmt sauber.“
„Danke, Mama.“ Mara musterte mit zusammengekniffenen Augen den auf dem Sofa schlafenden Kater und rief ihm zu: „Das nächste Mal kotzt du bitte auf den Küchenboden, wie sonst, ja? Jetzt hat der Express nach Oberdorf schon wieder Verspätung!“ Max hob den Kopf, sah sie verständnislos an und rollte sich gähnend auf den Rücken.
„Ich mag dich ja, aber du machst es mir echt schwer, eine vernünftige Bahngesellschaft zu betreiben. Meine Passagiere werden sich sicher beschweren, wenn das so weitergeht“, motzte Mara und machte sich daran, den havarierten Schnellzug zu inspizieren.