Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
18. Juni 2022α | 18:46 Uhr
„Du weißt, dass du deine Spielzeit bereits überzogen hast“, wiederholte ihr Vater geduldig und setzte sich auf die Armlehne des Ohrensessels.
„Ich bin ein Level achthundertzwölf Chronosbeschwörer“, brüllte Fiona aus ihrem Versteck heraus und legte die Stirn auf ihren Knien ab. „Du hast keine Ahnung davon, was du unserer Crew antust, wenn ich heute Abend nicht mehr spielen kann!“
„Ich weiß, Herzchen, ich weiß.“ Der beschwichtigende Tonfall hatte nicht die Wirkung, die er sich erhoffte, denn statt endlich aus der Zwischenwand ihres kleinen Häuschens am Stadtrand rauszukommen, kreischte die Zwölfjährige: „Dann hau ab und lass mich endlich in Ruhe!“ Seufzend fuhr er sich durchs langsam dünner werdende Haar, erhob sich, stemmte die Hände in die Hüften und atmete tief ein, ehe er die Luft lautstark zwischen zusammengepressten Lippen ausblies und meinte: „Gut. Ich bin in der Küche und trinke eine Glas Most, wenn du es dir anders überlegst, teilen wir uns ein Eis.“
„Ich hasse dich“, spie sie aus. „Ich wünschte, ich hätte keinen Vater!“
23. Mai 2061α | 18:12 Uhr
Diese Zankerei wegen irgendeiner Kleinigkeit, an die Fiona sich längst nicht mehr erinnerte, lag knapp vierzig Jahre zurück. Zu gerne hätte sie sich nochmal mit ihrem Vater gezankt, sich über seine stets besonnene Art geärgert und ihn so lange angezickt, bis er ihr die Leviten las. Das war ihr letzter Streit gewesen. Eine kurze Weile nachdem ihr Papa in die Küche gegangen war, hatten die Männer in Schwarz die Eingangstür eingetreten, waren in den Flur gestürmt und einer hatte gebrüllt: „Zielperson in der Küche!“
„Miss Filiola“, unterbrach Henry ihren wiederkehrenden Alptraum. „Wir sind bereit.“
„Danke, Henry. Du kannst gehen.“ Was sie vorhatte, war gefährlich, bei den ersten Versuchsreihen waren vier Laboranten ums Leben gekommen und der Testlauf vor drei Wochen hätte beinahe die halbe Stadt verwüstet. Zum Glück hatte sie den Berechnungsfehler gerade noch rechtzeitig entdeckt und so die Zerstörung ihrer Lieblingsstraßenbahnlinie verhindert. Zwar wäre es schade um die Zivilisten gewesen, Fionas Sorge galt allerdings eher dem Nahverkehr, ihr morgendliches Ritual, mit der Tram von dem alten Familienhaus in ihr unterirdisches Labor zu fahren, war ihr heilig. Die Presse feierte sie als Heldin, die würdige Nachfolgerin ihres Tüftlervaters, weil ihre Erfindung die Ressourcenkonflikte um brauchbare Materie zur Energiegewinnung innert weniger Tage null und nichtig gemacht hatte. Fiona war es nie darum gegangen, sie verfolgte einzig und allein ein Ziel.
„Soll ich die Berechnungen nochmal prüfen?“, fragte Henry zu seiner Jacke schielend. Von all ihren Mitarbeitern war Henry am tiefsten in das Projekt ‚Supmet‘ involviert, seine Nervosität war ihm also zu verzeihen.
„Nein, die Kalkulationen sind einwandfrei, meine Maschine ist zielgenauer als jeder Aimbot. In wenigen Minuten befinden wir uns an der richtigen Stelle der Umlaufbahn. Sie können gehen.“ Er packte seine Sachen, zögerte und starrte Fiona an. „Vielen Dank, Henry. Sie waren mir eine große Hilfe“, sagte sie und wurde von einer unvorhergesehenen Wehmut gepackt. „Ich bin stolz darauf, Sie in meinem Team gehabt zu haben.“
„Mich in ihrem Team haben zu werden“, korrigierte er sie schmunzelnd und sie teilten ein Lachen, bevor er durch die Tür verschwand und den versteckten Bunker verließ.
„Okay, Fiona Filiola“, sprach sie sich selbst Mut zu. „Du schaffst das.“ Damit stieg sie in die Kapsel, begab sich auf die Markierung und wartete ab, bis der Rechner den exakt richtigen Augenblick erkannte und Supmet sie dorthin schickte, wo alles begonnen hatte.
18. Juni 2022β | 18:22 Uhr
Nach einigen Sekunden fand Fiona aus der Desorientierung in die neue Realität, abgesehen von einem tieffrequenten Brummen im Innenohr stellte sie keinerlei Veränderungen an ihrem Körper fest. Hektisch kontrollierte sie das Dashboard, unterdrückte einen erleichterten Jubelschrei und sah sich um. Sie war einige Meter außerhalb der Zielzone angekommen, weshalb sie rasch ausstieg und ihre Maschine zwischen die Birkengruppe hinter ihrem Elternhaus zerrte, damit sie und Supmet im Verborgenen blieben. Die Männer in Schwarz würden bald auftauchen. Sie wollten ihren Vater meucheln, ihn hinterlistig in seinem Heim zu überfallen und sie zur Vollwaise zu machen. Dieses Mal, in diesem von ihr kreierten Zeitstrang, käme es anders! Durch das Westfenster im ersten Stock erspähte sie ihre eigene Silhouette, die scheinbar reglos dasaß und auf einen mit RGB-Beleuchtung umrahmten Bildschirm starrte. Zu gerne wäre Fiona sofort zur Eingangstür gerannt, um ihrem Papa schnellstmöglich in die Arme zu fallen. Das konnte sie nicht, kein Mensch sollte je erfahren, dass sie an diesen schicksalshaften Tag zurückgekehrt war.
„Fiona.“ Die Angesprochene schreckte hoch, indes schaute ihr jüngeres Ich vom Computer hoch, weil sie nach unten gerufen wurde. „Fiona, wir können das nicht tun, wir dürfen sie nicht aufhalten.“ Eine Gestalt löste sich vom Schatten einer Birke und ging auf sie zu.
„Ich habe keine Ahnung, was das soll“, begann Fiona zornig und griff nach ihrem Antimaterierevolver. „Aber niemand stellt sich mir in den Weg!“
„Fiona.“ Die Stimme kam ihr seltsam bekannt vor, sie war ihr vertraut, bloß ein wenig anders. „Fiona, ich … du bist es.“ Da trat sie ins Licht und sah sich selbst ins Gesicht. Ja, sie war es, älter, abgezehrter und von Narben übersäht, dennoch unverkennbar Fiona.
„Ich wünschte, ich hätte keinen Vater!“, dröhnte es dumpf aus dem Lüftungsschacht über den Hinterhof bis in ihr Versteck.
„Das kann unmög…“
„Wegen ihm gehen wir alle zu Grunde“, erklärte ihr zukünftiges Ich, Tränen flossen und sie streckte die Hand aus. „Fiona, wir müssen Papa sterben lassen.“