Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Dies ist eine Geschichte über meine Tante Rose. Sie ist kurz, die Geschichte sowie Tante Rose, denn es gibt redlich wenig zu erzählen. Tante Rose sähe das bestimmt anders, sie gehört keinesfalls zu der Sorte Mensch, die behautet: „Ach, ich bin uninteressant, über mich gibt es kaum etwas zu sagen.“ Im Gegenteil, wo viele gegen die Schamesröte auf ihren Wangen ankämpfen, wann immer sie mit Aufmerksamkeit und Aufmerksamkeiten überschüttet werden, fühlt sich Tante Rose nicht bloß geschmeichelt, sondern in ihrer Überzeugung bestätigt. Zumindest solange der Adressant besagter Schmeichelei ihren durchaus eigenen Ansprüchen genügt, sprich sowohl reicher als auch dümmer ist als sie – ersteres war weit einfacher zu bewerkstelligen als zweiteres. Aber sei es wie es sei, Tante Roses fester Glaube an ihren Charme, ihre überlegene Intelligenz sowie ihren mysteriösen Liebreiz mag zwar eine plumpe Täuschung sein, er verleiht ihr allerdings genau das, was ich ihr abzusprechen versuche. So langweilig die Gute ist, so stumpf ihr Verstand, so karikiert ihr Sexappeal, Tante Roses schamloser Größenwahn ist eine selbsterfüllende Prophezeiung, die sie wahrhaftig zu einer einzigartigen Frau macht.
Dies ist eine Geschichte über meine Tante Moira. Sie ist länger, die Geschichte sowie Tante Moira, denn es gibt weit mehr zu erzählen. Tante Moira sähe das bestimmt anders, sie gehört zu der Sorte Mensch, die fälschlicherweise behauptet: „Ach, ich bin uninteressant, über mich gibt es kaum etwas zu sagen.“ Das Gegenteil trifft zu. Obwohl Tante Moira gegen die Schamesröte auf den Wangen ankämpft, wann immer sie mit Aufmerksamkeit, geschweige denn Aufmerksamkeiten überschüttet wird und sich derartiger Zuneigung nie würdig fühlt, ist allen anderen absolut klar, weshalb sie zu Recht in diesen Genuss kommt. Tante Moiras Leben war und bleibt voller Abenteuer, welche weder von Egoismus noch von Ziellosigkeit getrieben werden.
Ihre persönliche Reise begann vor dreiundsechzig Jahren auf dem Hof ihres Herrn Papas. Dieser apathische Mann hatte wenig für seine Töchter übrig und das bisschen Liebe, das er zwischen Trunkenheit und Nichtsnutzigkeit aufbringen konnte, schenkte er stets Tante Rose. Es ist Tante Moiras Geheimnis, ob sie sich daran störte, meine Vermutung tut hier nichts zur Sache. Der Grund zum Aufbruch kam jedoch statt vom Herrn Papa, von der Frau Mama, einer gar scheußlich gemeinen Sadistin, die Disziplin mit der Rute und Gehorsam mit dem Schürhaken lehrte. So rannte Tante Moira ihrer Schwester eines Tages zur Hilfe, bot ihren Rücken zur Züchtigung an und wurde fortan zum Sündenbock der Familie. Die kleine, zierliche Rose ward bald verschont von den Mühsalen, die Tante Moira erduldete, ein Umstand, der dem Herrn Papa und der Frau Mama aus Gründen der harmonischen Außenwirkung gelegen kam.
Als ihr Sechzehnter nahte machte sich in Tante Moiras Herz Unruhe breit und so stellte sie sich an ihrem Geburtstag in die Wohnküche des kleinen Bauernhofes, um ihre letzten Worte an den Herrn Papa und die Frau Mama zu richten: „Ich gehe. Lebt wohl.“ Darauf folgten ihre Lehrjahre im Hospiz, wo ihre Freude am Helfen einen Zweck fand. Tante Moiras Leben ging danach erst richtig los, als sie als Schwester Moira die Welt erkundete und jede Minute denen widmete, deren Leiden kaum je mit einem Erkältungsmedikament gelindert werden konnte. Sie stillte Blutung um Blutung, nähte Wunden, tröstete Kinder, Mütter, Väter und diente allen, außer sich selbst. Ihr Mitgefühl fragte nie danach, ob jemand ihren Ansprüchen genügte und ihr fester Glaube daran, dass jeder eine Begegnung auf Augenhöhe verdient, verleiht ihr genau das, was sie sich selbst abzusprechen versucht. So wenig sie ihren großartigen Einsatz preist, so zurückhaltend sie ihren scharfen Verstand zeigt, so aufrichtig ihre Barmherzigkeit ist, Tante Moiras Bescheidenheit täuscht keineswegs darüber hinweg, was für eine wahrhaftig außerordentliche Frau sie ist.
Dies ist eine Geschichte über meine Tante Rose, meine Tante Moira und mich. Sie ist weder lang noch kurz, so wie die Wohnküche meiner Mutter, in der wir zu dritt um einen Adventskranz sitzen und einander nichts zu erzählen haben. Das sieht Tante Rose sicherlich anders, denn sie gehört zu der Sorte Mensch, die ihre schnöden Eskapaden für nennenswert hält und auch Tante Moira scheint meine Meinung nicht zu teilen und hört der Schwester aufmerksam zu.
„Also ich finde ja, die sind nur neidisch“, flötet Tante Rose selbstgerecht. „Hätten ebenfalls gerne ein so aufregendes Leben.“ Tante Moira lächelt still ohne zu nicken oder zu widersprechen. Mir hingegen steigt die Röte ins Gesicht, die Treffen mit Tante Rose sind mir ein Ärgernis, genauso die Begegnungen mit Tante Moira. Während die Überheblichkeit der einen die Galle in mir zum Kochen bringt, schäumt dank der stoischen Freundlichkeit der anderen meine Wut empor.
„Zu schade, wenn manche einem nichts gönnen“, tönt Tante Rose weiter. Tante Moiras Lächeln wird breiter, als sie ein Teller über den Küchentisch schiebt und sagt: „Plätzchen?“ Nach einigem Gezeter über Kalorien, Zucker und Hüftumfang, schnappt sich Tante Rose gleich vier der Köstlichkeiten, schnabuliert sie weg und fährt fort: „Eine Schande ist es, oder?“
„Sie meint es wahrscheinlich nicht böse, Rose“, versucht Tante Moira zwischen der Unbekannten und der Schwester zu schlichten. Wie so oft ohne Erfolg.
„Immer stellst du dich auf die Seite der anderen, Moira. Das tust du doch, weil du ebenso neidisch bist!“ Vor mir tut sich ein tiefes Loch auf, es ist gefüllt mit Ressentiment und zerrissenen Nerven, aber bevor ich meinen Mund öffnen kann, schiebt Tante Rose ihren Stuhl nach hinten, steht auf und stapft auf hohen Hacken ins Wohnzimmer, hinfort von der brodelnden Schelte, die aus mir platzen will. Tante Moira lächelt gleichmütig weiter, legt ihre schwielige Hand auf meine Unterarm und flüstert wissend: „Lass sie. Nichts Gutes kommt von Zorn.“
„Tante Moira“, hole ich um Contenance ringend aus, „wie um alles in der Welt kannst du deine Schwester ertragen? Sie ist langweilig, dumm und arroganter als ein verwöhntes Kind. Seit ich mich erinnern kann, nimmt sie von dir, nutzt deine Gutmütigkeit aus und …“
„Liebes, du weißt so manches nicht. Ich verdanke Tante Rose mindestens so viel, wie sie mir“, unterbricht mich Tante Moira ohne ihrs Mundwinkel zu verziehen. „Vermutlich mehr.“
„Na und?“, werde ich trotzig. Ich bin drauf und dran aus der Wohnküche zu marschieren, Tante Rose hinterher, um die Feiertage mit meinem bitteren Frust zu versalzen. „Mir reicht es! In dieser Familie wird gelabert und gelabert, nur was gesagt werden sollte, wird verschwiegen! Da mache ich …“
„Liebes“, fällt mir Tante Moira erneut ins Wort, nimmt sich eines ihrer selbstgebackenen Plätzchen, ehe sie ruhig erklärt: „Du kennst nicht die ganze Geschichte.“