Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
“Halt die Flugfläche, verdammt!“, nörgelte Roger lautstark, nachdem Mario zum wiederholten Male ins Schwanken gekommen war und dabei beinahe einen Teil ihrer Ladung verloren hätte. Der Angesprochene zuckte lediglich unbeeindruckt mit den Schultern und flog wie zum Trotz eine kleine Schlaufe, bevor er mit einem schelmischen Grinsen sagte: „Schieb‘s nicht mir in Schuhe, wenn du zu alt für diesen Mist wirst.“
„Ach, halt die Klappe!“, schrie Roger üben den Lärm der Rotoren, musste aber selbst ein wenig schmunzeln, als er einen Glimmstängel aus dem Päckchen in seiner Brusttasche klaubte und ihn anzündete. Roger stand kurz vor der Pensionierung und hatte deshalb das letzte halbe Jahr damit verbracht, seinen Nachfolger in die Feinheiten des Transportfliegens einzuführen und hatte Mario eigenhändig dafür ausgesucht. Die Firma war von seiner Entscheidung, einen abgehalfterten Ex-Kriminellen einzustellen, nicht gerade begeistert gewesen und hatte versucht, ihm einen aalglatten, dauerlächelnden Jüngling anzudrehen, der gerade eben noch in der Flugschule gewesen war. Er hatte sogar im Büro des Chefs antreten müssen, nur um dem Typen, der selbst noch nie einen Hubschrauber geflogen hatte, mit stoischer Miene zu erklären, dass er lieber mit einem stinkenden Border Collie im Cockpit sitzen würde, als mit einem Schnösel, der seinen Pilotenschein nur deshalb gemacht hatte, um sich und seine Freunde auf Ski-Trips zu fliegen. Auf jeden Fall hatte Roger seinen Willen durchsetzen können und Mario wurde zum Ärger aller anderen eingestellt. Natürlich hatte er dafür nie ein Dankeschön von seinem grobschlächtigen Schützling bekommen, sondern lediglich die üblichen dummen Sprüche, die man normalerweise in Kneipen zu hören bekam, doch Roger fand das toll.
„Wenn du den Unsinn nicht sofort lässt“, begann er lachend, bevor er von einem heftigen Hustenkrampf übermannt wurde. „Alles Okay?“, fragte sein Copilot mit besorgtem Blick und reichte ihm eine PET-Flasche mit abgestandenem Tee, den Roger mit verzogenem Gesicht ablehnte. „Bleib mir mit dem Kräuterzeugs vom Leib!“, protestierte er keuchend und zeigte mit seinem Finger auf die große Frontscheibe des Helikopters, bevor er anfügte: „Und konzentrier dich endlich auf den Horizont, du Dummbeutel.“
Etwas widerwillig drehte Mario endlich seinen Kopf und schwieg eine Weile, bevor er seufzte und kleinlaut sagte: „Die Gänseblümchen sind krampflösend, weißt du?“ Roger konnte sich das Lachen nicht verkneifen, zu lustig war es einfach, dass der harte Kerl neben ihm seine Kräutermischung zu verteidigen versuchte, was einen neuerlichen Hustenanfall zur Folge hatte.
„Nun trink den verdammten Tee!“, wetterte Mario und streckte ihm die Flasche mit dem scheusslichen Gebräu energisch entgegen und gab erst wieder Ruhe, als Roger den Deckel aufgeschraubt und einen kleinen Schluck getrunken hatte. Danach saßen die beiden Männer still grinsend nebeneinander und gerade als Roger sich vor der Frage, die er nicht hören wollte, in Sicherheit fühlte, räusperte sich Mario. Sein Blick war traurig und leer geworden, als er seinen Mentor nach dessen Gesundheit fragte und Roger kniff sich in den Oberschenkel, als er scherzhaft antwortete: „Nun, vom Tee alleine wird’s nicht besser werden.“
Er hatte die Träne in Marios Augenwinkel gesehen, sie aber ignoriert und versucht, mit belanglosem Geplänkel über Weihnachtsmänner und Spielzeugfabriken vom Thema abzulenken. Er war noch nie ein Mann fürs Sentimentale gewesen und er sollte verdammt sein, wenn er von einem Ex-Knacki dazu bekehrt werden würde, dachte er sich und zündete eine weitere Zigarette an.
Die Erschütterung, als der eisige Windstrom sie erfasste, rüttelte den alten Pappkarton, in dem Roger seine Logbücher, einen Taschenrechner, sowie ein Klappmesser aufbewahrte, unter dem Pilotensitz hervor und hätte Mario nicht sofort gehandelt, wäre er unter den Pedalen steckengeblieben.
„Himmel“, schrie Roger, der sich gerade noch auf dem festgezurrten Rollstuhl hatte halten können. „Was zum Teufel war das denn?“
Der Jüngere sah ihn erst erstaunt an und prustete dann ungehalten los, so sehr, dass feine Spucketropfen auf den Armaturen landeten und er ein Taschentuch aus seiner Cargohose zupfen musste, um seine Nase zu putzen. „Eine Windböe, was denn sonst?“, kicherte er wie ein Schulmädchen, bevor er Roger kräftig auf die Schulter klopfte und wissen wollte: „Sag mal, hat die Paraplegie jetzt auch noch dein Hirn lahmgelegt?“
„Schnauze halten!“, befahl Roger, der vom Schrecken wieder ins Husten geraten war und sich nun durch sein zerzaustes Haar fuhr.
„Schon gut, schon gut. Nun sei doch nicht so empfindlich.“ Mario gluckste immer noch, schielte aber zu seinem Freund rüber um sicherzugehen, dass dieser ihm den gutgemeinten Spaß nicht übelnahm und sah, wie Roger sich das Lachen verkneifen musste.
„Die Putzfrau hätte dich nie von dem Bettpfosten losbinden sollen“, meinte Roger dann schelmisch und äffte seinen Kumpel nach, bevor er in hustendes Gelächter verfiel: „Hilfe, oh Hilfe, die Dirne hat mich beklaut.“
Mario rollte nur mit den Augen und fragte sich, wie lange Roger diese alte Geschichte wohl noch auslutschen wollte, freute sich aber irgendwie doch, dass sie ihn noch immer erheitern konnte.
Die Instrumente zeigten an, dass sie bald am Ende ihrer Reise ankommen würden, an dem einzigartigen, weitentfernten Ort, wo alle Meridiane zusammenkommen – dem geografischen Nordpol. Roger, welcher sich inzwischen von seinem Keuchen etwas erholt hatte, kramte schon mal alle Formulare aus der Sichtmappe und kaum berührten die Schlitten des Hubschraubers den eisigen Boden, schnallte er die Gurte von seinem Rollstuhl und öffnete die Tür. Sie hatten keine Zeit zu verlieren und wollten die Kisten mit den Rohmaterialien für die Spielzeugproduktion so schnell wie möglich ausladen.
„Da kommen sie ja schon“, sagte Mario erfreut und deutete auf die kleinen Silhouetten, die durch die dunstige Eislandschaft mit Transportschlitten auf sie zumarschierten.
Roger saß dick bekleidet neben dem Helikopter und sah zu, wie Mario den Elfen half, die Tür des Frachtraums zu öffnen und die Kisten zu entladen, währendem er versuchte, mit seinen Fausthandschuhen das Feuerzeug anzuzünden. Dies wäre seine letzte Reise zum Nordpol, überlegte er wehmütig und fragte sich, wie der das dem Jungen beibringen sollte, der im letzten halben Jahr nicht nur sein Nachfolger, sondern auch sein Freund geworden war.