Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Ja, da stehe ich nun. Vor dem Spiegel in der öffentlichen Toilette lausche ich dem Kotzgeräusch meiner Teenager-Tochter, in die ich Jahre mühsamer Arbeit investiert habe und zu der mir nur noch ein einziges Wort einfällt: Versagerin. Nein, das darf ich nicht sagen, gar nicht erst denken, geht es mir wie jedes Mal durch den Kopf, denn am Ende muss man seine Kinder bedingungslos lieben, zumindest behaupten das immer alle. Doch auch wenn ihr Versagen zum Teil auch mein Fehler sein mag (auch das sagen alle, aber ich konnte trotz großer Mühe bisher noch keinen Beweis dafür finden), irgendwann ist das Maß voll. Wütend reibe ich mir Handcreme auf meine ausgetrockneten Finger und sage mit einem für mich ungewohnten sarkastischen Unterton in der Stimme: „Komm schon, wir wollen los – hübscher wirst du davon auch nicht mehr.“
Eigentlich sollte ich am Beginn der Geschichte anfangen, zu dem Zeitpunkt, als unsere glückliche kleine Familie vor etwa zwei Stunden das Verkehrsmuseum betreten hatte. Wie immer an Samstagen war alles gerappelt voll mit anderen Familien, die nur fröhlich durcheinanderriefen und mir im Weg herumstanden. (Verzeihung, das heißt natürlich „uns“, wie kann ich das bloß immer wieder vergessen?)
Ich muss unbedingt mit den sprunghaften Gedankengängen aufhören, doch das war schon immer meine normale Reaktion gewesen, wenn ich wütend bin und mir vorstelle, wie es wäre jemanden umzubringen. Nein, wirklich: Umzubringen, verdammte Scheiße! Wie auch immer – tief durchatmen. Und nochmal von vorn.
In meinem typischen, doch nach meinem Eindruck für eine Mittvierzigerin unüblichen, Eifer und mit unerschöpflicher Begeisterung war ich wieder einmal auf der nicht enden wollenden Mission, meine Kinder (und wenn möglich noch viele andere Leute) für die Welt um sie herum zu faszinieren und ihnen Dinge zu zeigen, von denen sie nicht besonders viel wussten. Ich habe keine Ahnung wieso, doch ich finde jeden Tag neue Freude an den alltäglichsten Sachen und verbringe den Großteil meiner Freizeit damit, Sachbücher zu lesen, ganz egal zu welchen Themen. Und während wir durch das Verkehrsmuseum schritten, vorbei an den alten Zügen, ersetzte ich wie immer den Audioguide und erklärte meiner Familie warum der „Blaue Pfeil“ ein revolutionärer Triebwagen war und was es mit der ersten laufachslosen Drehgestell-Lokomotive Ae 4/4 auf sich hat. Der Kleine folgte meinen Erläuterungen wie immer aufmerksam; ein Funke Hoffnung in der, in den letzten Jahren für mich zunehmend frustrierend gewordenen, Menschheit. Mein Mann wirkte wie immer sehr gelassen, beinahe schon abwesend, doch das war bei ihm ein Dauerzustand und daher konnte ich ihn auch sehr schlecht einschätzen – wenn es für ihn eine andere große Leidenschaft außer Zeitunglesen und sich dabei über Politiker aufzuregen gab, dann war sie mir bisher verborgen geblieben. Doch auf ihn wäre ich deswegen nie wütend gewesen und genauso wie ich ihm seine Gleichgültigkeit verzieh, ertrug er meinen Exzentrismus stoisch, wir sind wirklich ein gutes Team (und das meine ich tatsächlich ernst). Nur meine Tochter, die blöde Göre, blickte mich, wie fast immer wenn ich Freude an etwas hatte, demonstrativ gelangweilt an.
Und schon möchte ich wieder jemandem den Schädel einschlagen, einen verdammten Eispickel bis tief in den Hypothalamus rammen, ganz egal wem. Ständig jammert sie rum, sie sei zu fett, obwohl sie nicht viel mehr wiegt als bei ihrer verfluchten Geburt und auf meine verständnislosen Fragen, wieso sie denn unbedingt wie der Traum eines Pädophilen (nein, das habe ich in Wirklichkeit schöner formuliert) aussehen möchte, erklärte sie immer nur, dass sie den hübschesten Jungen der Schule abschleppen wolle. Natürlich, Teenager – Status, Revierverhalten, Gehirnneustrukturierung und so weiter, das versteht man sogar, wenn man kein verdammtes Psychologiebuch gelesen hat. Aber wenn sie mehr Rippen haben will als der alte Radiator in der Küche, dann ist doch etwas ernsthaft falsch mit ihr. Vielleicht hätte ich einfach keine Kinder haben sollen, denke ich mit dem wachsenden Gefühl der Verzweiflung, das mich letzthin öfter heimzusuchen scheint.
Kaum waren wir in der Halle mit den Automobilen angelangt, erklärte ich meiner mehr oder minder freiwilligen Zuhörerschaft, zu der mittlerweile auch eine kleine Gruppe Tagestouristen gehörte, die mich aus unerfindlichen Gründen für eine Museumsangestellte hielten, wie ein Hybridauto funktioniert und natürlich musste ich auch in den MAN-TGA-Truck steigen, die Verlockung war einfach zu groß. Der Kleine machte trotz seiner Müdigkeit noch voller Motivation mit, während meine Tochter einen Schmollmund zog und gelangweilt vor sich hin starrte. „Das ist die reale Welt, Mädchen, nicht einer deiner Wunschträume von Status in einer Gruppe voller Volldeppen, die in der achten Klasse noch immer nicht bruchrechnen können“, wollte ich in einer kurzen Verschnaufpause schreien, doch wie immer schweig ich. In der Zeit, die ich schon auf dieser Welt zugebracht habe, ist mir rasch klargeworden, dass ich mir selten Freunde mit Ehrlichkeit machte und so entschied ich, dass die meisten meiner Mitmenschen einfach nur oberflächlich und langweilig sein mussten (wahrscheinlich dachten die genau dasselbe über mich). Doch auch, wenn ich mich (zugegebenermaßen widerwillig) anpassen konnte, es gab immer wieder Dinge, die mir Freude bereiteten, das Wissen, die Faszination an dieser Welt und die Möglichkeit, mich mit anderen darüber zu unterhalten.
Auch in der Ausstellung zu Luft- und Raumfahrt hatte meine Begeisterung in keiner Weise nachgelassen, der Kleine war aber mittlerweile schon ziemlich müde geworden und mein Mann tippte mir auf die Schulter und bedeutete mir, ihn etwas zu schonen. Und anstatt mich in einem Monolog über die Convair CV 990 zu verlieren, setzten wir uns einfach auf die gemütlichen alten Polster der in ihrer Blütezeit schnellsten Passagiermaschine und ich starrte traurig aus dem Fenster, je länger desto mehr begreifend, dass ich einen gravierenden Fehler gemacht hatte. Doch was sollte man mit seinem Leben anfangen, wenn man seine kindliche Neugier und den damit gekoppelten Enthusiasmus in das Erwachsenenalter mittrug und dabei mit der nötigen Portion an sozialem Ungeschick eine Familie gründete? Kinder waren für mich genial, solange sie immer nur „Warum?“ fragten, alles verstehen wollten und ehrlich sagten, was sie dachten. Doch später, wenn sie glaubten erwachsen zu sein, war die Sache schon etwas schwieriger. Und die Tatsache, dass in dem Dorf über mich viel Klatsch im Umlauf war und sich meine Tochter deshalb längst für mich schämte, machte die Sache auch nicht leichter. Und irgendwann, da begriff ich, dass mir das eigentlich nicht egal sein dürfte, doch das war es.
Ganz gleichgültig für was sie sich interessiert, wenn es einfach irgendetwas wäre! So schwer kann doch das nicht sein, neben der ganzen Geltungssucht und den schlechten Noten, wie kann man da die Welt nur so grau und sinnbefreit finden, dass man sich zu Tode kotzt? Doch wie sollte ich ihr schon helfen? Wie geht man denn bitteschön mit einer solchen Essstörung um, wenn Rationalität und Einsicht keine Optionen sind? Alles was ich habe sind Worte, deren Bedeutung und Tragweite sie nicht versteht.
Und da stehe ich nun in der öffentlichen Toilette und werfe die leere Tube Handcreme mit aller Wucht in den Mülleimer, genau wie meine liebe Tochter dabei war, ihre Zukunft in den metaphorischen Papierkorb zu verschieben und ihn ein- für allemal zu leeren. Ich kann noch immer nicht verstehen, wie sie eine (wahrscheinlich halbwegs bewusste) Entscheidung für das Versumpfen in den seichten Gewässern der Oberflächlichkeit treffen konnte, obwohl ich wusste, dass sie eigentlich nicht so dumm war. Ich habe so viel meiner Zeit in sie investiert, wie ich nur konnte und heraus kam… das! Und während ich, der Verzweiflung näher denn je, an der Wand lehne, fast zu hyperventilieren beginne und sich in meinem Kopf eine Klammerbemerkung an die nächste reiht, begreife ich endlich, was es wirklich ist: Ich kann damit nicht umgehen, kann eines meiner Kinder nur noch mit Verachtung sehen statt ihr helfen zu können und befürchte, dass es bei dem anderen sehr bald auch so sein wird. Und da ist wieder dieser Gedanke in meinem Hinterkopf, diese Stimme, die schreit: „So sollte es nicht sein, so darf es nicht sein!“
Und ich habe Angst.