Er hielt Jennifer so fest in seinen Armen, wie er noch nie jemanden gehalten hatte. Hinter ihnen zogen in der Ferne große Gewitterwolken vorbei, vielleicht kamen sie näher, doch Toms Aufmerksamkeit war zu sehr auf das unglaubliche Geschehen hinter der Balkontür fixiert, als dass er den unheilvollen Himmel bemerkt hätte. Die zierliche Gestalt an seiner Brust zitterte von Sekunde zu Sekunde heftiger, erschütterte unter den grauenvollen Bildern, die sie hatten mitansehen müssen.
„Es ist sicher bald vorbei“, versuchte Tom seine Freundin zu beruhigen und strich ihr mit unsicheren Bewegungen übers Haar. In Wahrheit hatte er keine Ahnung, wie lange dieses Schauspiel der Unwahrscheinlichkeit sich noch abspielen würde, er wusste ja nicht einmal, was ihnen da überhaupt geschah. Jennifer musste klar sein, dass Tom sie anlog und doch entspannte sich ihre Schultermuskulatur ein klein wenig und sie sah mit wässrigen Augen zu ihm hoch.
„Wir müssen es aufhalten!“ Tom erstarrte. Er selbst hatte noch keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, dieses Monster zu stoppen und erst recht nicht damit gerechnet, dass die zurückhaltende Kindergärtnerin bereit wäre, so viel Mut zu zeigen. Ohne Toms Antwort abzuwarten, löste sie sich aus seiner Umarmung und begann damit, den Knoten ihres Schals zu lösen, den sie um die Hüfte gebunden trug. Sie stand links vom Durchgang und hatte sich an die Hauswand gepresst, damit sie ihren Fuß gerade noch auf die Brüstung des Erkerbalkons stellen konnte.
„Was hast du vor?“, verlange Tom zu erfahren und wandte seine grünen Augen bloß kurz von der Glastür ab, um zuzusehen, wie Jennifer sich den Stoff mit dem hässlichen Tartan-Muster um den Knöchel wickelte.
„Sicherheitsseil“, meinte sie zwischen zwei schweren Atemzügen und reichte ihm dann ohne weitere Erklärung das lose Ende des Schals.
Tom starrte sie einen Moment forschend an, ehe ihm seine Züge entglitten als er endlich verstand, was die Dreiundzwanzigjährige vorhatte. Er packte sie am Oberarm und flehte sie eindringlich an, es nicht zu tun und für eine kleine Weile schien es zu funktionieren. Dann jedoch schüttelte sie langsam den Kopf und zischte zwischen ihren zusammengepressten Lippen hervor: „Es tut mir leid, Tom.“
Ohne weiter zu zögern schüttelte sie seine Hand ab, machte einen großen Schritt auf die Tür zu und verschwand in der allesumfassenden Schwärze, die sich dahinter ausbreitete wie zähflüssiger Sirup.
Vor weniger als einer halben Stunde hatten sie beide noch in ihrem Hotelbett geschlafen oder besser gesagt, Jennifer hatte geschlummert während Tom ihr dabei zugesehen hatte. Das war das erste Mal, dass sie in einem gemeinsamen Zimmer übernachtet hatten und obwohl er sich dabei vorgekommen war, als wäre er einem kitschigen Liebesroman entsprungen, konnte er einfach nicht von ihr ablassen, wollte jeden Moment mit ihr einsaugen und für immer festhalten. Die ersten Erschütterungen hatte er kaum wahrgenommen, als sie dann aber stärker und häufiger aufgetreten waren und das Nichtraucherschild vom Nachttisch gefallen war, hatte er Jennifer vorsichtig aufgeweckt.
Was danach geschehen war, entzog sich ihrer beider Vorstellungskraft, es war einfach zu absurd, so surreal, als wären sie in das expressionistische Gemälde eines Schwerkranken gefallen. Viel mehr noch als das, das was sich hinter der Schwelle vor Tom ausbreitete war eine Persiphlage eines Albtraums.
„Jennifer, nicht!“, schrie er heiser über das ohrenbetäubende Sausen, das dem Schlund entwich. Die Gestalt war mehr als bloß tiefschwarz, sie verschluckte das Licht regelrecht, so dass es unmöglich war, ihre Silhouette überhaupt zu erkennen. Da war kein klarer Kontrast zwischen dem Hotelzimmer und diesem Monster zu erkennen, es war die pure Existenzlosigkeit, die alles ins Nichts riss.
Nach Luft schnappend zog Tom erneut ruckartig am Schal und murmelte wie ein Manta zu sich selbst: „Das kann nicht sein, das ist unmöglich!“
Absolut gar nichts, was er in seinem bisherigen Leben gelernt und gesehen hatte, konnte diese pulsierende Erscheinung erklären, die sich immer weiter auszubreiten schien. Innert weniger Augenblicke war sie von einer grauen Nichtigkeit zu einer pechdunklen Decke angeschwollen, in deren Fängen alles in ewiger Lichtlosigkeit ertrank. Tom blickte direkt hinein und doch konnte er nicht ausmachen, ob dieses Ding aus Materie, plasmaartiger Schwärze bestand oder ob es ein waberndes, schwarzes Loch war, das sich alles einverleibte, was es zu fassen bekam.
Jennifer hatte es vor ihm entdeckt und zuerst hatten sie geglaubt, es hätte vielleicht in der Etage über ihnen einen Rohrbruch gegeben. Durch die Wand gegenüber dem Bett war eine Flüssigkeit gesickert und hatte Spuren auf dem Fahrplan hinterlassen, die an die Spuren panisch greifender Finger erinnerten.
„Das kann doch nicht Wasser sein“, hatte Tom irgendwann gesagt und war vor den Schreibtisch getreten, um sich die Substanz genauer ansehen zu können. „Kann Schimmel so schnell wachsen?“ Er hatte die Antwort gekannt, wollte sich dennoch an der Idee, dass die Geschehnisse eine simple, rationale Erklärung haben konnte, festhalten. Jennifer zerstörte diesen Wunsch und verneinte.
„Hallo, Zimmer 23 am Apparat …“ Toms hatte angespannt die Luft angehalten und auf Jennifers nächste Worte gewartet. Sie hatte den Hörer des alten Telefons fest umklammert und mit zwei winzigen Silben war ihnen beiden klar geworden, dass sie keine Hilfe zu erwarten hatten: „Hallo?“
Der Sturm war über ihm angekommen, tobte roh und ungebändigt über das Schindeldach, während Tom seine Beine gegen den Türrahmen stemmte und mit aller Kraft am Schal zog. Erst jetzt verstand er, wie es möglich gewesen war, dass Jennifer so bereitwillig in dieser übernatürliche, grenzenlos scheinenden Gestalt getreten war, wie es sein konnte, dass die zitternde Angst von ihr gewichen war, ohne einen Zweifel zurückzulassen. Nach und nach spürte Tom es immer deutlicher, dieser Drang, dieses ungezügelte Verlangen in das Schwarz zu gehen, mit ihm zu verschmelzen. Das Sausen verzerrte sich immer ein wenig mehr, bis es zu einer lieblichen Melodie wurde, die nach Tom rief, die nach allem rief, was in unserer Welt existieren konnte.
„Tom“, vernahm er Jennifers helle Stimme, „Tom, komm her, es ist wunderbar.“ Plötzlich fiel jede Furcht von ihm ab und ganz so, als wäre er niemals dagewesen, war er befreit von jedem Schmerz. Da war nur noch das Nichts, die ewige Stille, in der jeder schlechte Gedanke, jede Aggression, jedes Leid einfach so verstummte.
Der Schal entglitt Toms Händen und er ließ Jennifers leblosen Körper behutsam auf den Boden des Erkerbalkons sinken. Das Gewitter klang unbemerkt ab, während Tom die Strangulationswunden streichelte und seiner Jennifer einen Kuss gab.